66 - Der Weg zum Glück 01 - Das Zigeunergrab
gelockert, so daß derselbe an der Schnur von seinem Rücken herabhing. Unter sich die ungeheure Tiefe, um sich nichts als nackte, glatte Felswand, begann er zu arbeiten.
„Was tut er?“ fragte man unten.
Als alle atemlos lauschten, hörten sie von oben herab ein leises, kaum wahrnehmbares Geräusch, wie das regelmäßige Ticken einer Uhr. Anton schlug mit dem Hammer das Spitzeisen in das Gestein, um einen festen Halt für das Seil zu bekommen. Diese Arbeit war mühsam. Es dauerte über eine halbe Stunde, ehe man bemerkte, daß er das Seil befestigt hatte. Dann plötzlich hing er an demselben in der Luft, hin und her schwebend wie ein Pendel. Immer weiter und weiter nieder griff er sich. Er kam der Frau näher und immer näher, und da – da hatte er den Vorsprung erreicht und kniete bei ihr nieder.
Lauter Jubel schallte von unten herauf. Er hörte ihn kaum.
Der Vorsprung war nicht unbedeutend, wohl zehn Ellen lang und vier Ellen breit. Da lag die Frau, unbeweglich und mit geschlossenen Augen. Anton zitterte jetzt, nicht um sich, sondern um sie. Sie lag in unmittelbarer Nähe der Kante. Eine Bewegung nach auswärts, und sie stürzte hinab. Weiter herzu lag das weiße Taschentuch, mit welchem sie gewinkt hatte.
Anton band zunächst den Stuhl los und setzte ihn nieder. Dann kroch er hin und zog die Frau so weit zurück, daß sie nicht hinabfallen konnte. Sie hatte das Aussehen einer Leiche. Sie hatte sich die zarten Händchen blutig gerungen. Er zog die Flasche hervor und tröpfelte ihr ein wenig Kirschgeist zwischen die halbgeöffneten Lippen. Sie schlug die Augen auf, starrte ihn eine Weile an und fragte sodann:
„Wo bin ich jetzt?“
„Fast in Sicherheit.“
„Fast in Sicherheit? Also noch nicht tot? Lebe ich denn noch?“
„Ja, du lebst halt schon noch und sollst wohl auch nicht sogleich sterben.“
„Mein Gott! Wer bist du? Wohl ein Engel!“
„O nein. Ich bin der Krickel-Anton. Hast denn noch nimmer von mir gehört?“
„Nein. Du bist ein Mensch?“
„Ja, ein richtiger Mensch, ein armes Teuferl, der sich freut, daß er hat da heraufi zu dir kraxeln können.“
„Wie ist das möglich! Hier herauf kann kein Sterblicher! Nur dem Adler ist es möglich, herbeizukommen.“
„Hm! Es muß schon auch anderen möglich sein, denn du siehst ja auch mich hier.“
„Also doch, doch! Welch eine Kühnheit! Und du willst mich retten?“
„Ja, wannst mit hinab willst.“
„O Gott, o Gott! Rettung, Rettung!“
Sie schloß die Augen. Nach all dem Jammer und der entsetzlichen Todesangst machte der Gedanke, daß Rettung möglich sei, sie schwindeln. Er flößte ihr noch einige Tropfen ein, und sie öffnete die Augen wieder. Jetzt nun dachte sie an die Wirklichkeit:
„Mein Mann!“
„Der sitzt da unten.“
„Wie! Er ist nicht tot?“
„Gar nicht. Er ist ganz schön mit abigrutscht und hat sich nachhero herauspasseln lassen.“
„Gott, Gott, ich danke dir! Ich war überzeugt, daß er zerschmettert worden sei!“
„Wie ist's denn geschehen?“
„Wir stiegen herauf. Ich setzte mich hierher, um auszuruhen. Es gab da einen langen Spalt durch das Gestein, aber nicht breit, kaum einen Zoll breit. Niemand konnte ahnen, daß eine ganze Wand sich vom Felsen trennen und in die Tiefe stürzen werde. Während ich ruhte, ging mein Mann weiter vor, um einige Pflanzen zu holen. Da begann es zu krachen, zu bersten und zu donnern. Der Fels verschwand vor meinen Augen und mein Mann mit ihm. Ich wurde ohnmächtig.“
„Schrecklich! Der Fels muß aber doch nur langsam abigebrochen sein, sonst wär dein Mann zerschmettert worden.“
„Gottes Engel haben ihn gehalten.“
„Ja, sicher. Er ist verschüttet gewest und aber bald herausgraben worden. Nachher hat er sich gewaltig um dich gekümmert.“
„Welche Angst mag er ausgestanden haben!“
„Größer nicht als die deinige.“
„Ganz gewiß nicht. Ich werde nie beschreiben können, was ich hier oben ausgestanden habe. Die Verzweiflung hat mich in ihren Krallen geschüttelt seit gestern.“
„Wir werden ihr die Krallen verschneiden.“
„So meinst du wirklich, daß ich gerettet werden kann?“
„Mit Gottes Hilf alleweil ja.“
„Aber wie?“
„Na, klettern kannst halt nicht?“
„Nein.“
„Das dacht ich schon. So werd ich dich also wohl tragen müssen.“
„Wohin?“
„Da hinunter.“
Er zeigte in die grausige Tiefe hinab.
„Unmöglich!“
„Warum?“
„Da kann kein menschliches Wesen hinab.“
„Bin ich nicht auch
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