68 - Der Weg zum Glück 03 - Der Baron
forschend auf Max gerichtet und fuhr dann fort:
„Und ebenso sollen Sie Gelegenheit finden, Ihre sämtlichen Anschauungen vor uns entwickeln zu können. Wollen Sie es wirklich wagen?“
„Ja.“
„Gut! Ich führe Sie nach Indien. Denken Sie sich einen indischen Tempel. An der Pforte desselben steht ein Priester Wischnus, welcher –“
„Also ein Jogi“, bemerkte Walther.
„Ein Jogi, ja. Ich höre da, daß ich Sie auf kein Ihnen unbekanntes Feld führe. Also dieser Priester spricht zu seinen versammelten Gläubigen über die Lehren seiner Religion. Indessen kommt ein Christ, ein Missionar, und beginnt, als der Jogi geendet hat, die hohen Wahrheiten des christlichen Glaubens zu entwickeln. Der Jogi unterbricht ihn. Es beginnt zwischen beiden ein Kampf, welcher mit der Niederlage des indischen Priesters endet. Wie gefällt Ihnen dieses Thema?“
Sein Auge war eigentümlich gespannt auf Walther gerichtet, welcher den Blick gesenkt hielt.
„Ganz außerordentlich schwer!“ meinte der Medizinalrat. „Selbst wenn ich Dichter wäre, möchte ich mich nicht an diese Aufgabe wagen, weil sie so bedeutende Kenntnisse erfordert, wie nur wenige sie besitzen.“
Jetzt wagte auch der Pfarrer, ein Wort zu sagen:
„Eine solche Aufgabe kann nur gegeben werden, um abzuschrecken. Sie ist nicht zu lösen, wenigstens durch eine Improvisation nicht.“
Der König nickte lächelnd und schüttelte dann aber auch leise mit dem Kopf. Jetzt blickte Walther wieder auf. Er entgegnete:
„Hochwürden haben nur halb recht. Diese Aufgabe kann gegeben werden, entweder um einen Unfähigen sofort und gänzlich abzuschrecken, oder um die Gaben eines anderen in das hellste Licht zu stellen.“
„Das ist's, das!“ stimmte der König bei. „Für welchen von beiden halten Sie sich? Für den Begabten oder den Unbegabten?“
Jetzt war es Walther, welcher seine Augen furchtlos forschend auf den König richtete. Welche Gedanken und Absichten wohnten jetzt dort unter der hohen, königlichen Stirn? In den dunklen, tiefen Augen war nichts zu lesen, weder Wohlwollen noch Aufmunterung. Dennoch antwortete der Lehrer getrost:
„Ich gedenke jetzt des Gleichnisses von den verschiedenen Pfunden. Es soll ein jeder mit dem seinigen wuchern. Gott gab es ihm, damit er es nach Kräften ausbilde, um möglichst viele und gute Früchte zu erzielen. Ich schäme mich nicht, zeigen zu dürfen, daß auch ein armer, einfacher Volkslehrer im stillen nächtelang und unter vielen Entbehrungen und Anstrengungen an seiner Weiterbildung gearbeitet hat.“
„Nun wohl“, nickte der König. „Wir wollen sehen, ob Ihre Anstrengungen Früchte getragen haben und ob Sie berechtigt sind, ein solches Selbstvertrauen zu zeigen. Stellen Sie sich dort an die Wand und beginnen Sie!“
Walther erhob sich von seinem Sitz und stellte sich an den Punkt, welchen der König ihm durch einen Wink bezeichnet hatte. Sein ruhig-heiteres Angesicht zeigte keine Spur von Befangenheit oder gar ängstlicher Sorge.
„Mein Gott!“ flüsterte seine Mutter, indem sie die Hände faltete. „Er ist so kühn!“
Alle hatten der kurzen Verhandlung mit Spannung gelauscht. Jetzt, als der Vortrag beginnen sollte, setzte sich ein jedes bequem im Stuhl zurecht. Selbst die Barbara kam mit der Lisbeth aus der Küche. Beide lehnten sich an die Tür derselben, um die Improvisation anzuhören. Jeder der Anwesenden wünschte im stillen von Herzen, daß der junge, mutige Mann die Probe bestehen möge.
„Also, anfangen!“ sagte der König.
„Bitte“, fragte Walther vorher, „darf ich Bilder gebrauchen, wie sie dem indischen Charakter und der dortigen Szenerie angemessen sind?“
„Das müssen Sie sogar, wenn Sie wahr sein wollen. Sie können die Anschauungen eines indischen Priesters ja nicht in unsere Umschläge wickeln.“
„Das ist mir eben erwünscht.“
„Schön! Also zunächst spricht der Brahmane!“
Es herrschte eine wahre Todesstille in der kleinen Stube. Selbst diejenigen der Anwesenden, welche nicht wußten, daß der Herr oben am Tisch der König sei, hatten ganz das Gefühl, daß die gegenwärtige Stunde für den Lehrer eine wichtige, wohl gar entscheidende sei.
Da erhob dieser langsam die beiden Arme zur Deklamation, blickte empor, ganz in der Haltung, in welcher der Brahmane zu seinem Gott betet, und begann:
„Steig nieder von den heiligen Höhen,
Wo in Verborgenheit du thronst;
Laß uns, o Brahma, laß uns sehen,
Daß du noch immer bei uns wohnst!
Soll deines Lichtes
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