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7 Minuten Zu Spät

7 Minuten Zu Spät

Titel: 7 Minuten Zu Spät Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
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und blickte sie an. Im grellen Mittagslicht sah sein Gesicht aus wie handgeschöpftes Papier. Roh, ohne Farbe. Er hatte sich heute früh nicht rasiert.
    »Gehst du gleich wieder arbeiten?«, fragte sie ihn.
    »Ich glaube nicht«, erwiderte er und warf einen Blick auf die Ladefläche seines Wagens.
    »Hast du die Eichenbretter eben erst abgeholt?«
    »Ja, aber das spielt keine Rolle.«
    Aber sie wusste, dass der Termin für seine Möbelausstellung näher rückte, und sie wusste auch, wie viel es ihm bedeutete, dort einen guten Eindruck zu hinterlassen.
    »Geh ruhig«, sagte sie. »Mit mir ist alles in Ordnung, und außerdem ist Mom bald da.«
    »Nein, Alice, ich möchte dich nicht alleine lassen.« Er bog in die President Street ein und fand einen Parkplatz direkt vor ihrem Block.
    »Es geht mir gut, wirklich. Ich lege mich hin, bis sie da ist.«
    Er zögerte kurz, und sie spürte deutlich, dass sie ihm genau das anbot, was er jetzt brauchte: mit seiner Trauer allein zu sein.
    »Bist du sicher?«
    »Ich halte es für besser, wenn du wieder zur Arbeit fährst.«
    Er holte tief Luft. »Vielleicht bleibe ich ja nur eine Stunde oder so. Ich könnte das Holz in die Werkstatt bringen, damit Diego schon mal mit dem Tisch anfangen kann.«
    Sie gab ihm einen Kuss zum Abschied und stieg aus dem Auto. Als sie die Treppe zur Haustür hinaufging, spürte sie seine Blicke im Rücken. Er wartete bestimmt ungeduldig darauf, dass sie endlich im Haus verschwunden war. An der Haustür drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. Er winkte zurück, und kaum war sie ins Haus getreten, hörte sie, wie er abfuhr.
    Sie ging direkt ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett. Um sie herum war alles still, und sie ließ die Ereignisse des Vormittags noch einmal an sich vorüberziehen, dankbar dafür, dass sie bei dem Unfall solches Glück gehabt hatte. Gedanken an Lauren gingen ihr durch den Kopf, und ihr war klar, dass dieser Schmerz so schnell nicht vorbeigehen würde. Und sie dachte an Ivy, versuchte sich zu überlegen, wie sie der Polizei helfen könnte, den Säugling so schnell wie möglich zu finden. Hatte denn jemals irgendetwas auch nur im Entferntesten auf eine solche Gewalttat hingedeutet? Wer konnte so etwas Grauenhaftes getan haben? War es jemand, der Lauren kannte? Oder war der Täter zufällig auf sie gestoßen? Alice lag auf ihrem Bett und wünschte, sie wäre heute früh gar nicht erst aufgestanden. Die Vorhänge waren aufgezogen, und sie beobachtete, wie das Sonnenlicht im dichten grünen Laub der Bäume spielte. Erst als es um zwei Uhr an der Tür läutete, stand sie auf.
    Lizzie stand in der Tür. Sie hatte abgenommen, ihre Haare ganz kurz geschnitten und weißblond gebleicht, um jünger als einundsechzig auszusehen. Sie trug eine neue, rechteckige Hornbrille, und die Lippen waren hellrot geschminkt. Aber sie sah nicht jung aus; sie sah aus, wie sie eben aussah: wunderbar real und beständig unter all ihrem kalifornischen Getue.
    »Komm her, meine Süße.«
    Alice stürzte sich in die Arme ihrer Mutter, roch das vertraute Parfüm, und die Tränen stiegen ihr in die Augen.
    Lizzie zog Alice an sich und murmelte beruhigend: »Ja, ja, ist ja schon gut.«

KAPITEL 12
    N ell und Peter waren außer sich vor Freude, als ihre Großmutter vor der Schule auf sie wartete. Ohne Alice auch nur eines Blickes zu würdigen, stürmten sie auf sie zu. Trotz ihrer weißen Hose fiel Lizzie auf die Knie und breitete die Arme aus, um ihre Enkel an sich zu ziehen und zu küssen. Sie schwatzten unablässig, den ganzen Weg bis zu Sweet Matilda, wo Lizzie sie zu einem »schicken Snack« eingeladen hatte. Alice hinterließ Mike eine Nachricht auf der Mailbox seines Handys, damit er wusste, wo sie waren. Es machte ihr nicht wirklich etwas aus, dass das Abliefern der Holzbretter so lange dauerte, aber er fehlte ihr doch, und sie fühlte sich ein wenig verlassen, weil er nicht bei ihr geblieben war.
    Der High Tea wurde auf einer dreistöckigen Etagere serviert, mit hauchdünnen Weißbrotscheiben ohne Kruste, Petits Fours, Plätzchen, Muffins und Scones. Alice und Lizzie teilten sich eine Kanne Kamillentee. Die Kinder kuschelten sich auf der Bank an der Wand an Lizzie, während Alice ihnen auf einem Stuhl gegenübersaß. Am liebsten hätte sie sich auch bei ihrer Mutter auf den Schoß gesetzt, aber so war es auch schön. Ab und zu schickte Lizzie ihr einen Luftkuss.
    »Wie lange bleibst du, Gamma?«, fragte Nell. Lizzie war für beide Kinder Gamma,

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