7 Minuten Zu Spät
steckte sie fest.
An der Ecke stand ein großer, dünner Schwarzer in zerrissener Kleidung. Um seinen Hals hing ein absurd großes Kreuz aus Alu-Folie, und er winkte und gestikulierte in ihre Richtung.
»Lady, Lady!«, rief er.
Alice blickte nach oben zum Bus. Die Fahrerin, eine stämmige Frau mit kurzen, metallisch roten Haaren, musterte sie wütend durch die Windschutzscheibe.
»Lady!«
Der Mann kam jetzt auf sie zu, und Alice wusste nicht, was sie tun sollte. Würde er sie angreifen?
Aber er beugte sich nur vor und sagte: »Atmen Sie tief durch und beruhigen Sie sich. Eins, zwei, drei.« Er atmete ihr den Rhythmus vor, und sie gehorchte. Die Panik begann zu schwinden, und es ging ihr ein wenig besser. Er blickte sie durch das offene Fenster aufmunternd an.
»Wissen Sie was, Lady? Zwanzig Jahre lang war ich Busfahrer in der Stadt. Jetzt bin ich pensioniert. Aber einmal ist mir genau das Gleiche passiert wie Ihnen jetzt. Ich gebe Ihnen einen guten Rat.«
Alice wusste gar nicht, was ihr passiert war. Einen kurzen Moment lang war sie mit den Gedanken woanders gewesen.
»Vergewissern Sie sich beim Abbiegen, dass Sie dort auch fahren dürfen. Bei den vielen Einbahnstraßen hier kennt sich doch kein Mensch aus. Also, gucken Sie lieber zweimal hin, verstehen Sie?«
Hinter dem Bus ertönte ein Hupkonzert. Alice holte noch einmal tief Luft und stieg aus dem Auto. Jetzt sah sie auch das Einbahnstraßenschild an der Ecke. Sie hätte hier nicht abbiegen dürfen. Und sie hätte es wissen müssen, schließlich kannte sie die Gegend hier.
»Herr im Himmel!«, rief der Mann aus. »Wann soll das Baby kommen?«
»Im Dezember.« Alice legte die Hand auf den Bauch. Die Babys lagen wieder ruhig und schwer in ihr. »Vor Weihnachten.«
Auch die Busfahrerin war ausgestiegen und blickte jetzt kopfschüttelnd zu Alice und dem Mann. Die Fahrgäste drückten sich die Nasen an den Scheiben platt und machten ihrem Ärger Luft.
»Machen Sie erst mal den Führerschein!«
»Sie sind schuld, dass ich zu spät komme!«
»Sie sollten beim Autofahren eine Brille tragen!«
Alice war sich noch nie in ihrem Leben so dumm vorgekommen. Sie trat auf die Busfahrerin zu. »Es tut mir Leid. Es war meine Schuld, ich bin falsch abgebogen. Ich nehme alles auf mich.«
Die Frau warf ihr einen geschockten Blick zu. Damit hatte sie nicht gerechnet, schließlich waren sie in New York City, in Brooklyn. Aber mit einer Schwangeren, die alles zugab, konnte man schlecht streiten. Kopfschüttelnd wandte sie sich zum Bus, um den Schaden zu begutachten. Alice trat zu ihr.
Die Beifahrertür an Alices Auto war komplett eingedrückt, aber der Bus hatte nichts abbekommen, wenn man einmal davon absah, dass ein Gummipuffer vorne halb herunterhing.
»Die Beule war schon vorher da«, behauptete Alice. Das stimmte natürlich nicht, sie hatte sie verursacht.
»Oh, oh«, sagte der Mann und wiegte bedenklich den Kopf. Alice folgte der Fahrerin in den Bus. Sie wandte sich an die erregten Fahrgäste und wiederholte ihre Entschuldigung: »Es tut mir Leid. Es ist meine Schuld. Es tut mir Leid, wenn Sie meinetwegen jetzt zu spät kommen.« Sie konnte beinahe körperlich spüren, wie die Spannung wich. Die Blicke waren mit einem Mal viel freundlicher.
Die Busfahrerin schrieb sich Alices Personalien auf, und Alice entschuldigte sich auch noch einmal bei ihr. Die Frau erwiderte nichts und nickte nur, aber Alice konnte spüren, dass sie die Entschuldigung akzeptierte. Und dann geschah etwas Seltsames. Die Stimmung im Bus schlug zu ihren Gunsten um, und die Fahrgäste gaben mitfühlende Äußerungen von sich.
»Das ist mir auch schon zweimal passiert.«
»Machen Sie sich nichts daraus, meine Liebe. Sie sind auch nur ein Mensch.«
»Passen Sie auf Ihr Baby auf.«
»Machen Sie sich um uns keine Gedanken. Wir können den nächsten Bus nehmen.«
Alice nickte dankbar. Schließlich stieg sie aus dem Bus und setzte sich wieder in ihr Auto. Der dünne Schwarze, ihr Retter, regelte den Verkehr, damit sie zurücksetzen und wenden konnte. Langsam und vorsichtig fuhr Alice über die Court Street in die Degraw und stellte den Wagen wieder auf den Parkplatz.
Sie hatte jetzt zu viel Angst davor, weiterzufahren, und der Gedanke, was sie alles hätte anrichten können, entsetzte sie. Sie rief bei ihrer Gynäkologin an, erklärte, sie habe einen kleinen Unfall gehabt, und man sagte ihr, sie solle sofort zur Untersuchung kommen. Dann rief sie Mike an und bat ihn, sie abzuholen. Mit
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