7 Werwolfstories
belebten Straßen in weitem Bogen umgangen hatte. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als Menschen anzufallen, aber er hatte keinen von ihnen getötet. Auch Marielle hatte er nicht lebensgefährlich verwundet.
Warum er selbst während seines Wolfsdaseins so human war, konnte er nicht begründen. Vielleicht hinderte ihn sein Unterbewußtsein daran, zu morden?
Plötzlich durchfuhr es ihn siedend heiß. Er schloß die Augen und biß die Zähne zusammen.
Nicht jetzt, dachte er, nur nicht jetzt.
Der Drang ließ nach, er hatte das schmerzhafte Verlangen, sich in einen Wolf zu verwandeln, besiegt. Die Erkenntnis kam blitzartig: Er konnte den Drang kontrollieren!
Er atmete auf.
Der Fahrer des Sattelschleppers warf ihm einen Seitenblick zu und murmelte etwas auf Französisch. Sergej reagierte überhaupt nicht. Er hatte vorgegeben taubstumm zu sein. Das schien ihm die beste Möglichkeit, kein Aufsehen zu erregen. Bisher funktionierte seine Tarnung.
Vor ihnen tauchte eine Raststätte auf. Der Fahrer bremste den Sattelschlepper ab und fuhr auf den Parkplatz. Er stieß Sergej an und bedeutete ihm, mitzukommen. Sergej schüttelte den Kopf und kehrte bedauernd seine Rocktaschen um. Der Fahrer forderte ihn daraufhin nochmals zum Mitkommen auf, und diesmal folgte ihm Sergej bereitwillig.
Er hatte nichts dagegen, sich auf ein Mittagessen einladen zu lassen. Das Schaf, das er letzte Nacht gerissen hatte, war schon längst wieder verdaut. Sein Magen knurrte.
Das Essen war nicht dazu angetan, hohe Ansprüche zu befriedigen, aber es sättigte wenigstens. Sergej lehnte sich zufrieden zurück. So saß er eine Weile da und wartete darauf, daß der Fernfahrer die Zeitung weglegen würde. Eine Viertelstunde wartete Sergej vergebens darauf. Er wurde unruhig, und um nicht aufzufallen, nahm er ebenfalls eine Zeitung und tat, als lese er.
Plötzlich stach ihm ein Wort ins Auge.
Lykanthropologe, stand da. Ein Lykanthrop war ein Werwolf, und ein Lykanthropologe mußte demnach jemand sein, der sich wissenschaftlich mit Werwölfen befaßte. Sergej hatte bislang nicht gewußt, daß es einen Zweig der Wissenschaften gab, der sich dem Mythos über Werwölfe annahm. Aber das war nun egal.
Sergej studierte den Artikel Wort für Wort. Er bekam natürlich nicht heraus, worum es im einzelnen ging, aber immerhin erfuhr er den Namen eines Lykanthropologen und dessen Adresse.
Er hieß Jean-Louis Guillard und wohnte in Paris. Sergej nahm sich in diesem Augenblick vor, ihn aufzusuchen. Es war der einzige Mensch, dem er sich anvertrauen konnte und von dem er überzeugt sein konnte, daß er ihn auch anhören würde.
Sein Entschluß stand fest. Er würde zu Professor Jean-Louis Guillard gehen und ihm alles über die bevorstehende Invasion der Werwölfe erzählen. Hoffentlich hörte er ihn auch an, bevor er die Polizei verständigte.
Sergej kam sein Vorhaben plötzlich sinnlos vor. Wer würde ihm denn schon glauben? Es klang alles so phantastisch und unwahrscheinlich, daß man ihn für wahnsinnig halten mußte. Trotzdem blieb ihm keine andere Wahl. Er mußte den Lykanthropologen aufsuchen, um sich der drückenden Belastung zu entledigen, die das schreckliche Geheimnis für ihn bedeutete, das er mit sich trug.
Der Sattelschlepper brachte ihn bis Lyon, wo er die Nacht frierend in einem Park verbrachte. Er hätte der Kälte ganz leicht beikommen können, indem er Wolfsgestalt annahm, aber aus Angst vor einer Entdeckung unterließ er es. Am nächsten Morgen bereute er seine übermäßige Vorsicht bitterlich. Ein Polizist stöberte ihn auf und nahm ihn wegen Landstreicherei mit auf die Wache. Dort wurde ihm ein Platz vor einem Schreibtisch
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