7 Werwolfstories
mein Gedächtnis nicht verloren. Ich mußte flüchten, ich mußte um mein Leben laufen.«
»Sie können mir Ihre Geschichte auch später erzählen«, meinte sie beruhigend. Sie senkte den Blick und sagte: »Sie wissen sicher nicht, wohin Sie sich wenden sollen. Wenn Sie wollen, können Sie hier in meinem Haus übernachten – ich habe ein Gästezimmer.«
»Ich würde schon – aber haben Sie keine Angst, einen wildfremden Mann bei sich aufzunehmen?«
»Hm, hm«, machte sie kopfschüttelnd. »Nicht wenn er so tugendhaft ist wie Sie.«
Ja, dachte er, ich bin ein tugendhafter Werwolf. Ich muß schleunigst jemand finden, mit dem ich über meine Krankheit sprechen kann.
Spät in der Nacht lag er immer noch wach. Er dachte, Marielle an seiner Seite sei schon lange eingeschlafen. Aber plötzlich bewegte sie sich und richtete sich auf.
»Warum bist du Ihnen davongerannt?« erkundigte sie sich mit leiser Stimme.
»Das fragst du mitten in der Nacht?«
»Ich konnte ebensowenig schlafen wie du.«
Eine Weile herrschte Stille, dann sagte er: »Sie wollten mich töten, so wie sie es mit meinen Kameraden getan haben.«
»Aber in der Zeitung steht, sie seien bei der Katastrophe ums Leben gekommen.«
»Alles Lüge. Sie wurden abgeschossen wie …«
»Wie tollwütige Hunde?«
»Ja, wie tollwütige Hunde!« Er spürte eine heiße Woge seinen Körper überschwemmen. In zorniger Erregung fuhr er fort: »Sie haben uns keine Chance gelassen. Wir hatten kaum unsere Schnauzen aus der Schleuse gesteckt…«
Sie erstarrte. »Was sagst du da, Sergej?«
Wie versteinert lag er da. Er hatte sich verraten. Durch ein einziges unbedachtes Wort hatte er ihren Argwohn erweckt. Doch war das nicht so schlimm, er hätte sich noch herausreden können – wenn nicht ausgerechnet in diesem Augenblick der Drang über ihn gekommen wäre. Er wehrte sich heftig dagegen, aber er kam nicht dagegen an. Es war ein Muß für ihn, sich zeitweise in einen Werwolf zu verwandeln. Anders konnte er nicht existieren.
Er erinnerte sich noch genau an das erstemal, als er auf alle viere niedergesunken war und ihm aus dem Spiegel ein Wolf entgegengeblickt hatte. Das war auf dem Raumschiff passiert, eine Woche nachdem sie Sirius verlassen hatten. Er war damals zu Tode erschrocken gewesen …
»Sergej! Was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl?«
»Gleich, Marielle, gleich wird es mir besser gehen.«
Er fletschte die Zähne, knurrte wild und sprang dem vermeintlichen Rivalen entgegen. Der Spiegel zersplitterte in tausend Scherben – er hatte sein eigenes Spiegelbild angegriffen.
Er kam wieder zur Besinnung und lief unruhig in der engen Kabine auf und ab, die für menschliche Bedürfnisse geschaffen worden war. Als Mensch fühlte er sich wohl darin, aber als Wolf brauchte er mehr Bewegungsfreiheit.
Er war hungrig, aber als er an den Nahrungskonzentraten schnupperte, rebellierte sein Magen. Er war durstig, konnte seinen Durst aber nicht stillen, weil er mit den Pfoten den Wasserhahn nicht betätigen konnte. Am liebsten hätte er seiner Verzweiflung in einem anhaltenden Klagelaut Ausdruck gegeben, aber er gemahnte sich noch rechtzeitig zur Vorsicht.
Er war nicht allein auf dem Raumschiff. Sechs Menschen befanden sich mit ihm an Bord. Es waren seine Kameraden nur solange er menschliche Gestalt besaß. Jetzt war er ein Wolf, die Menschen waren seine Feinde!
Er mußte warten, bis der Drang nachließ und er wieder menschliche Gestalt annehmen konnte. Dann würde er sich überlegen, welche Vorsichtsmaßnahmen er künftig gegen eine Entdeckung treffen konnte. Denn er wußte: Er würde noch oft zum Wolf werden.
Das war sein Schicksal.
Sechs Wochen später rief der Kommandant, Juri Alexandrowitsch, sie zu einer
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