Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

Titel: 71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
erteilen.“
    „Seien Sie überzeugt, daß er uns sehr willkommen sein wird.“
    „Sprechen Sie, wenn Sie zu der Sängerin kommen, nicht davon, daß sie singen soll. Das würde doch wie ein Engagement klingen. Laden Sie sie einfach ein; sie wird Sie verstehen und Ihnen für diese Zartheit dankbar sein. Singt sie dann heute nicht, nun, so wird sie ein anderes Mal singen. Sie haben dann wenigstens die Genugtuung, die erste Dame zu sein, bei welcher die Künstlerin eingeführt worden ist.“
    Das leuchtete dem Bankier ein. Er war gar so gern nobel und zart; aber er hatte kein Geschick dazu. Kam es dann einmal vor, so wie jetzt, daß er durch andere in die Möglichkeit gesetzt wurde, zart zu sein, so trieb er die Zartheit dann allerdings auch bis auf die äußerste Grenze.
    „Hörst du es, Judith!“ rief er. „Sei zart! Du kannst es ja, denn das ist uns beiden angeboren. Wir sind von zartester Konstitution und sind auch so unendlich zart verheiratet worden. Sage ihr nicht, daß sie singen soll. Verbiete es ihr! Sage ihr, daß ich es nicht dulde, auf keinen Fall dulde. Sie soll nur essen und trinken. Sie braucht kein Wort zu singen oder zu sprechen. Also, sei zart, Judithchen! Fasse sie leise und lieblich an mit den Fingerspitzen, so wie man eine Spinne ergreift, wenn man sie zum Fenster hinauswerfen will.“
    Der Graf gab sich Mühe, bei diesem ‚zarten‘ Vergleich ernst zu bleiben. Er verabschiedete sich in verbindlichster Weise und ganz kurze Zeit später fuhr die Baronin nach dem Hotel.
    Dort erfuhr sie zu ihrem anfänglichen Leidwesen, daß die Sängerin das Hotel bereits verlassen und sich eine Privatwohnung gemietet habe. Dann, als sie erfuhr, wo diese Wohnung sich befand, freute sie sich doppelt darüber, denn die Frau Salzmann, zu welcher die Sängerin gezogen war, war ja eine liebe Freundin von ihr. Sie war die sehr wohlhabende Witwe eines Regierungsbeamten und besaß in der Asperngasse ein Haus, dessen möblierte Wohnungen sie an anständige Personen vermietete. Dabei hatte sie die Gewohnheit, sich als Mutter ihrer Abmieter zu betrachten und ihnen in jeder Beziehung mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
    Zu ihr fuhr die Baronin, welche ihres Erfolges nun ganz sicher zu sein glaubte, da Frau Salzmann voraussichtlich ihre Bitte unterstützen würde. Die letztere war ja auch bereits für heute abend geladen.
    Unterwegs begegneten der Baron und Criquolini ihrem Wagen, ohne daß sie den beiden Männern die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Sie hatte den Sänger einmal flüchtig in dem Flur des Salzmannschen Hauses gesehen und dann von der Wirtin gehört, daß er ein wüster Patron sei, den in ihr Haus genommen zu haben sie lebhaft bedauere. Den Namen hatte sie sich nicht gemerkt, und so ahnte sie nicht, daß der Sänger, an welchen ihr Mann durch die Hand des Grafen geschrieben hatte, dieser
‚wüste Patron‘ sei.
    Frau Salzmann saß am Morgen in der Küche und war mit ihren beiden Dienstmädchen mit der Vorbereitung des zum Mittagsmahl notwendigen Gemüses beschäftigt. Sie war auch diesen Mädchen wie eine Mutter. Sie griff selbst mit zu, nahm Teil an allem, was sie betraf, und behandelte sie mehr als Kinder denn als Gesindepersonen.
    Da klingelte es. Die hübscher Gekleidete von den beiden Mädchen ging, um nachzusehen. Sie ließ dabei die Küchentür halb offen und so hörte Frau Salzmann ein wollklingende, sonore Frauenstimme fragen:
    „Entschuldigen Sie, würde Frau Salzmann für einen Augenblick zu sprechen sein?“
    „Wen darf ich melden?“
    „Hier meine Karte.“
    Das Zimmermädchen führte die Fremde in den Salon und brachte dann die Karte in die Küche. Frau Salzmann las auf derselben den Namen Lena Ubertinka.
    „Sonderbarer Name!“ sagte sie. „Vielleicht ist sie eine Ausländerin. Wie sah sie aus, hebe Martha?“
    „Einfach, aber sehr anständig.“
    „Was mag sie wollen? Na, ich will sehen.“
    Sie strich die glänzend weiße Küchenschürze glatt und begab sich hinüber nach dem Salon.
    Die Fremde stand, sie erwartend, da. Sie war in ein einfaches Reisegrau gekleidet und trug nicht den mindesten Schmuck an sich. Der Hut war ein einfacher Strohhut mit grauseidenem Band. Die Gestalt war hoch und voll, das Gesicht bleich, aber nicht kränklich blaß. Die großen, schwarzen, ernstblickenden Augen konnten es einem antun. Sie war eine Schönheit, aber eine jener ernsten Schönheiten, denen man nur in lauterer Absicht zu nahen wagen darf.
    Frau Salzmann war eine Menschenkennerin. Sie sagte

Weitere Kostenlose Bücher