71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
in ihrer Ausdrucksweise, ihrem Ton, ihrem Blick, ihrem Mienenspiel ein Etwas, was es ihm ganz unmöglich machte, sie für ein gewöhnliches Mädchen zu halten.
„Ja“, sagte er. „Gewehrt haben Sie sich auf das tapferste. Ich glaube sogar, Sie wären mit den beiden auch ohne meiner Hilfe fertig geworden.“
Er hatte vielleicht erwartet, daß sie verneinend antworten und seine Tat mit großem Lob hervorheben werde; sie aber sagte ganz im Gegenteil:
„Natürlich! Ich hätt dem Criquolini nur mein Gesichten zu zeigen braucht, so wär er fortgelaufen. Das wollt ich aber doch nicht gern. Darum hab ich halt wartet, daß sie herankommen möchten.“
„Und ich bildete mir ein, daß Sie sich in großer Bedrängnis befänden!“ lachte er ein wenig pikiert.
„Damit war es nix. Aber gut ist's doch gewest, daß Sie grad zugegen waren, und darum danken wir Ihnen auch gar schön. Und daß Sie nachher gar vom Pferd stiegen sind, um bis hierher mit uns zu gehen, das ist so brav und ritterlich von Ihnen, daß ich Ihnen gar gleich eine Hand dafür geb. Hier ist sie!“
Er, der Aristokrat, welcher mit den höchsten Herrschaften zu verkehren verstand und niemals in eine Verlegenheit zu bringen gewesen war, er fühlte sich von ihren Worten und ihrem Verhalten beinahe verblüfft.
Sie, das Dienstmädchen, wagte es, ihm die Hand zu bieten! Sie nannte sein Benehmen brav und ritterlich! Sie sagte: ‚… um bis hierher mit uns zu gehen‘, und deutete ihm damit an, daß er wieder umkehren möge! Was sollte er da denken? Er fand nicht sofort eine Antwort, und darum war es gut, daß Martha beistimmte:
„Ja, dera gnädige Herr ist schon allzuweit mit uns gangen. Wir dürfen seine Güt nicht länger mißbrauchen.“
„Wie Sie wollen“, antwortete er. „Aber darf ich, bevor wir scheiden, erfahren, bei wem Sie in der Mohrengasse dienen?“
Diese Frage war ihm halb unabsichtlich entfahren. Es war eigentlich gar nicht ‚Gentlemanlike‘ von ihm als Grafen, sich nach der Hausnummer von zwei Dienstmädchen zu erkundigen; aber es trieb ihn, zu wissen, wo Leni wohne.
„In demselbigen Haus, wo dera Criquolini im Parterre wohnt“, antwortete Martha. „Er muß bis morgen ausziehen. Wir wohnen in dera ersten Etagen.“
Die drei waren miteinander stehen geblieben. Der Graf erhob spaßhaft drohend den Finger und sagte zu Leni:
„Also in demselben Haus! Ei, ei! Und da haben Sie nicht gewußt, daß er nach dem Augarten spazieren gegangen ist!“
„Nein“, antwortete sie ohne alle Verlegenheit. „Ich bin erst gestern in Wien ankommen und hab mit keinem Wörtle ahnt, daß er grad in demselbigen Haus wohnt. Aber, was tut's auch, ob's glaubt wird oder nicht. Wir sagen schönen Dank, Herr Graf, und nun Adieu!“
Sie reichte ihm abermals die Hand hin. Er ergriff dieselbe und fragte:
„Werden wir uns vielleicht im Leben noch einmal begegnen?“
Diese Frage eines Grafen an ein Dienstmädchen! Wie kam es nur, daß sie ihm entfahren war?
„Ganz gewiß“, antwortete Leni.
„So! Sie tun, als wüßten Sie das so ganz genau?“
„Das ist gar kein Wunder.“
„Wieso?“
„Wien ist doch nicht so groß, daß zwei Menschenkinder, wie wir beide sind, so ganz und gar fürnander verschwinden müßten. Ich denk, daß wir nander sogar recht bald begegnen werden.“
„Wenn Sie so gut wahrzusagen verstehen, so wissen Sie vielleicht auch wann und wo?“
„Ja, das weiß ich freilich genau.“
„Nun, wann?“
„Wohl gar schon heute noch.“
„Ah! Und wo?“
„Beim Abendregen.“
„Wo ist das?“
„Das ist ein Ort und eine Zeit, die ich jetzund noch nicht sagen kann. Wissens, eine jede Weissagung hat auch ihre Dunkelheiten, wohinter man sich verstecken kann. Aber das sag ich, daß alles ganz genau zutrifft, wann ich einmal die Zukunft vorhersagt hab. Und nun nochmals großen Dank, gnädiger Herr! Großen Dank und – auf Wiedersehen!“
Sie machte einen Knicks, so wie eine Älplerin ihn vor einem vornehmen Herrn zu machen pflegt, und zog die Martha mit sich fort.
Er blieb stehen und blickte ihnen nach, fast wieder so verblüfft wie vorher. ‚Großen Dank und – auf Wiedersehen‘, hatte sie ihm gesagt. Wußte sie denn wirklich, daß er sie wiedersehen werde? Was hatte das Wort ‚Abendregen‘ zu bedeuten?
Er rieb sich vergeblich die Stirn. Er sah ihren elastisch kräftigen Gang. Die kleinen Füße wurden zuweilen unter dem Saum des Kleids sichtbar. Er hatte ihre Hand in der seinigen gehabt; sie war so klein, so weich, so
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