71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
rundlich gewesen – eine schöne Damenhand!
Und doch sprach sie diesen Bauerndialekt! Doch bewegte sie sich in der ganz vulgären Ausdrucksweise! Und dennoch, dennoch hatte es zuweilen ein Wort gegeben, welches erraten ließ, daß sie scharf zu denken und fein zu fühlen verstehe!
Ja, dieses Dienstmädchen war eine ganz ungewöhnliche Erscheinung, ein gradezu faszinierendes Wesen. Nach den Reden des Sängers hätte man sie zu den verlorenen Dirnen zu zählen gehabt. Sollte das möglich sein? Es sprach manches dafür – ihre Anwesenheit in der Wohnung des einstigen Geliebten, ihr einsamer Spaziergang hier und anderes. Aber der Graf wies diesen Gedanken mit ebenso stiller wie energischer Entrüstung zurück.
Er wäre wohl noch eine ganze Weile tief in Gedanken versunken hier stehen geblieben, wenn ihn nicht der Hufschlag seiner Pferde darauf aufmerksam gemacht hätte, daß sein Reitknecht, welcher den dreien langsam nachgeritten war, bei ihm angekommen sei.
Er stieg wieder in den Sattel und ritt, ganz von dem Eindruck dieses kleinen Abenteuers erfüllt, nach Hause. Und dort angekommen, gab er sich nicht seinen gewöhnlichen Beschäftigungen hin. Er konnte das lieblich ernste Gesicht der schönen Älplerin nicht los werden und ging, in Gedanken an sie versunken, ruhelos in seinem Zimmer auf und ab.
Endlich strich er sich mit der Hand über die Stirn, lachte leise und verwundert auf und sagte zu sich selbst:
„Graf Horst von Senftenberg, was ist mir dir! Denk doch an deinen Stammbaum, an die lange Reihe deiner Ahnen, an deine hohen Verbindungen und gesellschaftlichen Verpflichtungen, nicht aber an dieses Bauernmädchen, welches ja gar nicht für dich existieren darf!“
Er setzte sich an den Schreibtisch und begann zu rechnen. Er hatte von den Verwaltern verschiedener seiner Güter Rechenschaftsberichte vorliegen, welche zu prüfen waren; aber er kam nicht vorwärts. Zwischen den trockenen Zahlenreihen blickte ihm immer und immer wieder das Gesichtchen mit den tiefen, unergründlich tiefen Augen entgegen. Er machte Fehler auf Fehler und warf endlich mißmutig die Feder weg.
„Es geht nicht!“ gestand er. „Dieses Mädchen hat es mir angetan, mir, den noch keine einzige Dame ein tieferes Interesse einzuflößen vermochte. Das ist so schnell gegangen. Ich habe sie nur dieses eine Mal gesehen und kenne ihre Züge und den Tonfall ihrer Stimme bereits so gut, als ob ich sie jahrelang studiert hätte. Ich halte es hier nicht länger aus; ich gehe! Aber wohin?“
Er blickte nach der Uhr.
„Es ist noch nicht Zeit, beim Kommerzienrat vorzufahren. Ich werde nach dem Kaffee gehen und ein Glas Wein trinken. Dort gibt es Zeitungen und zahlreiche Gesichter, bei deren Betrachtung andere Gedanken kommen werden.“
Er kleidete sich, da er nicht zurückzukommen beabsichtigte, zur Soiree an und begab sich dann nach einer der berühmten Wein- und Kaffeestuben, welche in der Nähe lag.
Dort angekommen, bemerkte er zu seinem Leidwesen, daß das Lokal gefüllt war. An denjenigen Tischen, an welchen noch ein Platz zu finden war, saßen Personen, die ihm nicht behagten. Er suchte ein kleines, ihm bekanntes Kabinett auf, in welchem nur ein einziges Tischchen mit vier Stühlen stand. Dieser Raum pflegte stets für exklusivere Stammgäste reserviert zu sein. Dort war er gewiß, nur anständige Leute zu finden. Selbst wenn die vier Stühle besetzt waren, konnte er sich einen fünften herbeibringen lassen.
Dieses Kabinett war durch eine Portiere von dem Hauptraum getrennt. Wenn man dieselbe auseinanderzog, konnte man alle draußen Befindlichen beobachten, ohne von ihnen gesehen zu werden.
Dort hatte der Graf oft gesessen und sich im stillen dadurch unterhalten, daß er an den so verschiedenartigen Gesichtern der Gäste psychologische Studien machte.
Als er jetzt hinter die Portiere trat, war nur ein einziger Stuhl besetzt, und derjenige, welcher ihn inne hatte, war ein ihm vollständig Fremder.
Dieser Mann war schon hoch bei Jahren und hatte sehr scharf und kühn gezeichnete aber angenehme und Vertrauen erweckende Züge. Sein Gesicht war außenordentlich sonnenbraun. Von dieser tiefen Färbung stachen die dichten, grauen Haare und der gewaltige, schneeweiße Schnurrbart effektvoll ab. Sein Anzug war elegant, aus feinstem, graubraunen Winterstoff nach dem neuesten Schnitt gefertigt. Am Nagel hing ein Gehpelz, mit teurem Biberrücken gefüttert. An den Händen trug er einen einzigen Ring, dessen schmaler, einfacher Reif aber
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