71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil
außerordentlich viel zu erzählen. Die Zeit verging ihnen wie im Flug.
Da, eben als sie an einer Kreuzung des Weges angekommen waren, traten ihnen um die Ecke eines Gebüsches zwei Herren entgegen. Leni erblickte sie zuerst und zog schnell ihren schwarzen Doppelschleier herab, so daß ihre Gesichtszüge nicht deutlich zu erkennen waren.
Die beiden waren nämlich der Krickel-Anton und der sogenannte Baron von Stubbenau.
Jetzt sah auch Martha, wen sie vor sich hatte.
„Um Gott!“ sagte sie erschrocken. „Da sind die beiden schon wieder! Laß uns fliehen.“
Sie waren Arm in Arm gegangen. Martha wollte den ihrigen aus demjenigen der Sängerin ziehen. Die letztere aber hielt sie fest und antwortete:
„Keine Flucht! Wir würden uns nur blamieren, ohne daß sie uns etwas hülfe. Wollen diese beiden die Szene von heut vormittag fortsetzen, so würden sie uns doch nacheilen. Sie haben uns bereits gesehen und dich erkannt, wie es scheint.“
„Aber wir sind wehrlos!“
„Nicht ganz.“
„Kein Mensch ist in der Nähe. Nur ganz da draußen sind zwei Reiter zu erblicken. Ehe diese herankommen –“
Sie konnte ihre Rede nicht vollenden, denn die beiden Herren waren jetzt herangekommen und blieben stehen. Sie zogen ihre Hüte, und der Sänger rief, die volle Gestalt Marthas mit lüsternem Blick überfliegend:
„Ah, welch ein Glück! Fräulein Martha! Sind Sie gekommen, mir hier den Kuß zu geben, den Sie mir heut verweigerten? Das ist ja außerordentlich liebenswürdig von Ihnen und wird dankbar anerkannt werden. Bitte, geben Sie mir Ihren Arm!“
Er ergriff ihren Arm.
„Unverschämter!“ rief sie, ihn zurückstoßend. „Gehen Sie!“
„Nein, Liebchen, ich gehe nicht. Ich habe es auf dich abgesehen, und da ich dich so scheu gefunden habe, bin ich nicht so dumm, diese prächtige Gelegenheit vorübergehen zu lassen. Also, Ihren Arm!“
„Lassen Sie mich! Ich rufe um Hilfe.“
„Wen denn? Es ist kein Mensch da. Baron, nimm du die andere!“
Er hielt wirklich Marthas Arm so fest, daß sie sich ihm nicht zu entwinden vermochte. Der Baron hatte die Sängerin gemustert. Ihre Züge konnte er nicht deutlich erkennen, aber ihre Gestalt war voll und verführerisch.
„Hast recht“, sagte er auf Antons Aufforderung. „Also bitte, Fräulein, Ihren Arm!“
Er griff nach Leni.
„Was wollen Sie?“ fragte diese sehr ruhig. „Den Arm oder die Hand?“
„Beides, beides natürlich!“
„Schön! Sehen Sie, wie das tut!“
Sie stieß, ehe er sich dessen versah, ihm die geballte Faust mit aller Kraft so unter die Nase, daß sein Kopf nach hinten kippte und der Hut herabfiel und eine Strecke im Staub fortrollte.
„Donnerwetter!“ schrie er, sich mit beiden Händen nach der Nase greifend. „Verfluchte Hexe! Du haust ja!“
„Ja, die scheint Gift zu haben“, lachte Anton, noch immer mit Martha ringend, welche ihm ihren Arm entziehen wollte.
„Das Gift werde ich ihr bald nehmen!“ antwortete der Baron.
Er holte seinen Hut, setzte ihn, um keine Zeit zu versäumen, schmutzig auf und griff wieder nach Lenis Arm.
„Lassen Sie die Hand von mir!“ rief diese, ihre Stimme so verstellend, daß sie nicht von Anton erkannt werden konnte.
„Nein, das tue ich nicht. So ein wildes Geschöpf muß man zahm machen.“
Er schlang die Arme um ihren Leib, und Leni hütete sich wohl, dagegen zu wehren. Sie war klug genug, den geeigneten Augenblick abzupassen. Sah sie doch, daß sich zwei Reiter schnell näherten.
„Einen Kuß!“ rief der Baron, durch ihr passives Verhalten irre gemacht.
Er bog den Kopf zu ihr nieder. Da aber ballte sie die beiden Fäuste und stieß sie ihm mit aller Macht blitzschnell unter das Kinn.
Er ließ sie fahren, stieß einen unartikulierten Schrei aus und stürzte auf den staubigen obgleich hart gefrorenen Boden nieder.
„Kerl!“ lachte der Krickel-Anton. „Was fällt dir ein! Dich von einem Weibsbild werfen zu lassen! Da schau her, wie ich die Meinige küsse.“
Er wollte diesen Worten die Tat folgen lassen; aber Martha war durch Lenis tapferes Verhalten ermutigt worden. Sie wehrte sich nach Kräften und rief laut um Hilfe.
Der Baron war wieder aufgesprungen und gab sich nun alle Mühe, Leni wieder an sich zu ziehen; diese aber wehrte sich mit dem Mut und der Kraft eines Mannes.
Die beiden Reiter mußten jetzt erkennen, daß es sich hier um einen Angriff auf die Damen handelte. Sie spornten ihre Pferde und kamen schnell herbeigeflogen, der Herr voran, der Bediente in Livree
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