711 N. Chr. - Muslime in Europa
anrückenden Muslimen geflohen. Will man der Überlieferung glauben, waren vor allem die jüdischen Einwohner geblieben. Sie begrüßten die Krieger Allahs als Befreier vom Joch der Westgoten und öffneten ihnen die Stadttore. Dem späten Bericht des Al-Maqqari zufolge gab Tariq ibn Ziyad die Stadt sogar vorübergehend in die Obhut der Juden, weil er auf dem weiteren Eroberungszug keinen seiner Kämpfer entbehren konnte. Tatsächlich ist über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Toledo zu Beginn des 8. Jahrhunderts fast nichts bekannt. Selbst die Gestalt der westgotischen Königsstadt lässt sich nicht rekonstruieren. Keines ihrer zahlreichen Gebäude, nicht einmal in späterer Zeit verbaute Teile haben die Zeiten überdauert. Ebenso wenig lassen sich verlässliche Aussagen über die Größe der jüdischen Gemeinschaft oder ihre Organisation treffen. Wenn die Juden in der ersten Phase muslimischer Herrschaft über Toledo aufgrund ihrer Ortskenntnis eine Rolle beim Aufbau des Verwaltungsapparats gespielt haben sollten, so werden die siegreichen Muslime |56| ihnen gewiss nicht die alleinige Gewalt über die Stadt übertragen haben. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass die Eroberer von den Juden keinen Widerstand befürchten mussten. Vorübergehend reichte eine vergleichsweise kleine Zahl muslimischer Krieger als Besatzung aus, um die wenigen verbliebenen Christen unter Kontrolle zu halten.
|54| Jüdische Tradition in al-Andalus – Gründungslegende einer Stadt
Die meisten alten Städte haben Gründungslegenden. Chronisten bemühten sich, ihrer Stadt ein hohes Alter und würdige Gründer zu geben – Trojaner auf ihrer Irrfahrt, biblische Gestalten oder Figuren aus der klassischen Mythologie sind am beliebtesten. So verhält es sich auch mit Toledo. In seiner 1605 verfassten Beschreibung der Stadt behauptet Fernando de Pisas, kein Geringerer als der Halbgott Herkules sei ihr Gründervater gewesen. Daneben existiert eine erstaunliche weitere Variante, in der Juden die Hauptrolle spielt. Die frühneuzeitliche Lokalgeschichtsschreibung verweist auf eine weithin bekannte hebräische Legende, deren Ursprünge bis in das Mittelalter zurückreichen und der zufolge Toledo von Juden gegründet wurde. Der Gründungsmythos verweist auf das Selbstbewusstsein und -verständnis der Toledaner Juden in den Jahrhunderten vor ihrer Vertreibung. Er wurde sogar von christlichen Geschichtsschreibern aufgenommen. Während einige von diesen die Legende von der jüdischen Stadtgründung ablehnen, sind zahlreiche andere von deren Glaubwürdigkeit überzeugt. Das Aufgreifen dieser Legende durch christliche Geschichtsschreiber noch Jahrzehnte nach der Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel spricht für deren einst bedeutende Stellung in der städtischen Gesellschaft. Die Erinnerung daran blieb auch nach 1492 lebendig und wirkt bis heute auf das Bild vom vermeintlich friedvollen Zusammenleben der Religionen in Toledo. Der Blick auf die Details offenbart freilich, dass diese sogenannte
convivencia
sich im Alltag keineswegs immer so konfliktfrei und schon gar nicht gleichberechtigt gestaltete.
Einer hebräischen Erzähltradition zufolge, die im Laufe der Zeit eine Reihe von Ausschmückungen und Deutungen erfuhr, war Toledo die älteste Ansiedlung von Juden auf der Iberischen Halbinsel. Unmittelbar nach ihrer Ankunft hätten sie dort ihr Gotteshaus Ibn Schuschan errichtet (im Jahre 1405 durch den Orden von Calatrava in die Kirche Santa María la Blanca umgewandelt), das nach dem in Jerusalem der zweite jüdische Tempel überhaupt war. Die Gründerväter |55| der Stadt gehörten den biblischen Stämmen Juda und Benjamin an und seien noch vor der Zerstörung des ersten Jerusalemer Tempels durch die Babylonier im Jahre 587 v. Chr. in Spanien ansässig geworden, will der Religionsphilosoph Isaak Abrabanel (1437–1508) in seinem Kommentar zu den zwei Büchern der Könige wissen. Abrabanel, der in Spanien und Portugal auch als Finanzberater verschiedener Könige und später des Dogen von Venedig fungierte, erklärt den Ortsnamen Toledo als Ableitung aus der Wurzel
TUL
. Das zugehörige Verb bedeutet »bewegen«, das hieraus gebildete Substantiv
tiltul
heißt »Übergang« oder »Reise«. Die größte Verbreitung aber erlangte die Deutung, Toledo gehe auf das hebräische
Toledot
zurück – wörtlich »Generationen«. Diese Bezeichnung deutet am direktesten auf die lange Geschichte jüdischen Lebens in der Stadt, die
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