711 N. Chr. - Muslime in Europa
Heerführers ist unbekannt. Ebenso plötzlich, wie der Berber im Frühjahr 711 die Bühne der Weltgeschichte betreten hatte, verließ er sie auch wieder. Das Kalifat in Damaskus fürchtete Unabhängigkeitsbestrebungen in Nordafrika und auf der Iberischen Halbinsel. |62| Der kommenden Ereignisse zeigten, dass solche Befürchtungen alles andere als grundlos waren. Tatsächlich löste sich die Provinz Afrika im Laufe der Zeit immer stärker von der Herrschaft der Kalifen. Die Iberische Halbinsel scherte seit der Mitte des 8. Jahrhunderts sogar völlig aus der islamischen Welt aus, in der eine neue Dynastie das Kalifat an sich riss. Vorerst aber hatte der Omaijaden-Kalif Sulaiman Abd al-Malik die Situation noch im Griff. Im Jahre 714 war Musa ibn Nusairs Sohn Abd al-Aziz als Statthalter von al-Andalus eingesetzt worden. Sevilla war die neue Hauptstadt des muslimischen Herrschaftsbereichs auf der Iberischen Halbinsel.
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|61| Und dann heiratete der neue Statthalter die Witwe des westgotischen Königs Roderich. Das war vermutlich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Was Abd al-Aziz wohl im Sinne einer Herrschaftskontinuität getan hatte, wertete der Kalif in Damaskus als Auftakt zur Errichtung einer eigenständigen Herrschaft. Im Jahre 716 ließ er Abd al-Aziz kurzerhand ermorden. Alle künftigen Statthalter von al-Andalus wurden direkt von Damaskus oder Kairuan eingesetzt. Die meisten herrschten nur kurze Zeit. Doch drückten sie dem Alltag von Muslimen, Christen und Juden unter muslimischer Herrschaft jeweils ihren Stempel auf. Der Nachfolger des Abd al-Aziz, Ayyub, verlegte die Hauptstadt schließlich nach Córdoba. Die folgenden Jahrhunderte blieb die Stadt das herrschaftliche und geistige Zentrum von al-Andalus.
Bis zur Ermordung des Abd al-Aziz hatten die muslimischen Invasionstruppen zahlreiche Städte in ihre Gewalt gebracht, darunter Zaragoza, León und Siguenza sowie Pamplona, Tarragona und Barcelona. Die
Tarraconensis
entlang der Küste
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in etwa das Gebiet zwischen Valencia und den Pyrenäen, wo sich noch westgotischer Widerstand regte – rissen sie bis 719 an sich. In der Folgezeit unternahmen sie Vorstöße in den Bereich jenseits der Pyrenäen und bemächtigten sich dabei der Stadt Narbonne im Südwesten des heutigen Frankreichs. Im Jahre 725 gelang es ihnen sogar, bis nach Nîmes vorzurücken. Auch Carcassonne am Fuße der westlichen Pyrenäen fiel in ihre Hände. Doch allmählich begann sich in den gebirgigen Gegenden der Iberischen Halbinsel, in Asturien, der Widerstand gegen die Besatzer zu formieren.
|63| Die Siedler von Toledo oder Wem gehört das Land?
Nach der Eroberung wurde Toledo allmählich zu einer islamischen Stadt. Im Schutze der Mauern siedelten vornehmlich Araber. Aus den Schriftquellen wissen wir sogar, um welche Familienclans es sich handelte. So lebten in der Stadt vor allem Stammesangehörige der al-Ansari und der al-Fihri. Dem arabischen Geschichtsschreiber Ibn Said zufolge, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wirkte, war der Name al-Ansari zu dieser Zeit in ganz al-Andalus, insbesondere aber in Toledo weit verbreitet. Die Bezeichnung geht auf die in Medina ansässigen Stämme der al-Aws und der al-Hazradsch zurück, die den Propheten gemäß der islamischen Tradition auch militärisch unterstützt hatten. Für diese Loyalität erhielten sie das Recht, den Ehrennamen al-Ansari, »die Verteidiger«, zu führen.
Während sich die Araber hauptsächlich in der Stadt ansiedelten, ließen sich die Berber vor allem im südlichen und östlichen Umland von Toledo nieder. Die Ansiedlung insgesamt scheint maßgeblich nach militärischen Gesichtspunkten erfolgt zu sein. Dass die Berber sich dabei vor allem in ländlichen Gebieten niederließen, hängt wohl damit zusammen, dass sie sich traditionell in stärkerem Maß der Viehzucht und Landwirtschaft widmeten als die Araber. Dennoch wurden die Berber offenbar systematisch von einer Teilhabe an der Herrschaft über die eroberten Städte in al-Andalus ausgeschlossen. Die Unzufriedenheit über die Landverteilung führte in der Folgezeit zu Aufständen gegen die arabische Dominanz. Insgesamt ist bisher wenig über die Siedlungsprozesse auf der Iberischen Halbinsel bekannt, die auf die muslimische Eroberung von 711 folgten. Fest steht, dass es einige Jahrzehnte dauerte, bis der Bevölkerungsverlust durch Zuwanderung aus der islamischen Welt ausgeglichen war. Das lag nicht zuletzt an anhaltenden politischen und
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