711 N. Chr. - Muslime in Europa
Sein Wirken unter den Geistlichen der Kathedrale, an deren Schule er lehrte, ist spätestens im Jahre 1157 belegt. Vielleicht kam er aber auch schon kurz nach dem Abschluss seines Studiums 1145 auf die Iberische Halbinsel. In Toledo angelangt, wurde ihm sofort der unschätzbare Wert der orientalischen Werke für die abendländische Wissenschaft klar. Die lateinischen Schriften waren ihm allesamt bekannt, doch in den Bibliotheken Spaniens schlummerten viele Wissensschätze, die es zu heben galt. Allerdings bedurfte es hierzu einer ausgezeichneten Kenntnis der arabischen Sprache. Gerhard von Cremona nahm die Mühe auf sich. Es brauchte Jahre, bis er die schwierige Sprache so gut beherrschte, dass er sich an die ersten Übersetzungen wagen konnte. Die Schaffung einer Fachterminologie und die Suche nach der besten Textvorlage als Basis für eine Übersetzung wurden für ihn zur Lebensaufgabe.
Gerhard war über sechzig Jahre alt, als er 1175 endlich sein erstes Ziel erreicht hatte. Es war ihm gelungen, den »Almagest« zum ersten Mal ins Lateinische zu übersetzen und so dem Abendland zugänglich zu machen. Vorausgegangen war die ebenso mühsame wie geduldige Suche nach dem Text, der dem |105| antiken Original nach Auffassung Gerhards am nächsten kam. In den folgenden Jahren übersetzte der Italiener gemeinsam mit seinem mozarabischen Mitarbeiter Galib 71 Werke aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, hauptsächlich medizinische Schriften. Neben verschiedenen Texten des Galen von Pergamon wurden durch Gerhards Wirken die Hauptwerke des ar-Razi (Rhazes) und des Ibn Sina (Avicenna) bekannt. Der sogenannte »Canon medicine« des Ibn Sina löste im medizinischen Unterricht an den jungen abendländischen Universitäten den bereits ein knappes Jahrhundert zuvor in Süditalien ins Lateinische übertragenen »Liber regius« des Haly Abbas ab. Außerdem widmete sich Gerhard von Cremona der Übersetzung von Werken, die auf der Iberischen Halbinsel entstanden waren. Die wohl bedeutendsten dieser Schriften waren die chirurgische Abhandlung des az-Zahrawi, genannt Abulkasis, der in Córdoba praktiziert hatte, und der Traktat über die Heilmittel des Ibn Wafid aus Toledo. Im Jahre 1187 starb der fleißige Übersetzer, von seiner gelehrten Umgebung in einer eigenen Eloge für sein unermüdliches Wirken gelobt.
|106| Islam oder Der unbekannte Glaube der Feinde
Als die abendländischen Kreuzfahrer am Ende des 11. Jahrhunderts zur Befreiung der heiligen Stätten in den Vorderen Orient aufbrachen, blickten die Muslime bereits auf eine nahezu fünfhundertjährige Geschichte zurück. Auf der Iberischen Halbinsel lebten Christen unter islamischer Herrschaft. Auch im Süden Italiens hatten Araber und Berber zeitweilig Fuß fassen können. Dennoch wussten die meisten Menschen im christlichen Abendland nicht mehr über das Leben des Propheten Mohammed oder die Glaubensinhalte des Islams als zu Beginn der islamischen Expansion, im Gegenteil: Die in der Hauptsache von Waffengewalt bestimmte Begegnung zwischen lateinischen Christen und Muslimen verhinderte weitgehend, dass die Franken den Glauben ihrer Gegner besser kennenlernten. Die unvorbereitete Begegnung der ersten Kreuzfahrer mit dem Orient führte dazu, dass man der Fantasie freien Lauf ließ und abstruse Vorstellungen in Umlauf gerieten.
Ein Beispiel für das verzerrte Bild von den Muslimen im Abendland ist die im 12. Jahrhundert verfasste Chronik des Guibert von Nogent (gest. 1124). Der Geschichtsschreiber nahm selbst nicht am Kreuzzug teil, trotzdem weiß er über den Propheten Mohammed und den Islam einiges zu berichten. Wie er selbst betont, schöpft er für seine Darstellung aus den Anekdoten der Ritter, die aus der Levante heimgekehrt sind, sowie aus der Volksmeinung. Völlig unbekannt ist ihm dabei geblieben, wann der Prophet lebte. Trotz entsprechender Bemühungen hatte der Geschichtsschreiber eigenen Aussagen zufolge keine gelehrten Aufzeichnungen über Mohammed finden können. Guibert behauptet, Mathomus, wie er den Religionsstifter nennt, habe seine Ernennung zum Patriarchen von Alexandria angestrebt. Weil er aber ketzerischen Ideen anhing, wollten die Kirchenoberen diesem Begehren nicht zustimmen. Wie andere Zeitgenossen stellt auch Guibert den Propheten Mohammed als abtrünnigen Christen dar. Christen des Mittelalters erschien es schlicht unmöglich, dass eine neue Glaubensgemeinschaft entstanden |107| war, die für sich selbst den Anspruch erhob, auf der höchsten Stufe
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