711 N. Chr. - Muslime in Europa
Koran-Übersetzung
Wie kaum eine zweite von den Christen zurückeroberte Stadt der Iberischen Halbinsel übte Toledo kurz vor der Mitte des 12. Jahrhunderts eine nahezu magische Anziehungskraft auf Gelehrte aus allen Teilen des Abendlandes aus. Sie kamen hierher, um die wissenschaftlichen Werke aus dem Orient zu studieren, zu übersetzen oder übersetzen zu lassen. Zwar wurden auch andernorts in Spanien Übersetzungen angefertigt, so etwa in Barcelona oder Tudela, doch schwang sich die Hauptstadt Neukastiliens zu einem europaweit angesehenen Zentrum auf. Angesichts der großen Zahl in Toledo entstandener Übersetzungen herrschte lange Zeit die Ansicht vor, es habe dort eine Art Übersetzerschule bestanden. Nach dieser eher romantischen Vorstellung wirkten dort muslimische, jüdische und christliche Gelehrte gemeinsam an der Übertragung von Schriften aus allen Wissensdisziplinen vom Arabischen oder Hebräischen ins Lateinische. Tatsächlich hat es eine solche Übersetzerschule nie gegeben. Die Schriftzeugnisse selbst geben Auskunft über die im Toledo des 12. Jahrhunderts gepflegte Übersetzungspraxis. So ist etwa im Vorwort der lateinischen Übersetzung einer philosophischen Abhandlung aus der Feder Ibn Sinas (Avicenna, um 980–1037) zu lesen, dass zwei Übersetzer mit der Arbeit beschäftigt gewesen waren. Während der jüdische Übersetzer Avendeuth – auch unter dem Namen Johannes von Sevilla bekannt – den Ausführungen zufolge den Text in die romanische Umgangssprache übersetzte, übertrug sie der Geistliche Domingo Gonzálvez sodann ins Lateinische. Die Arbeit war im Jahre 1140 durch den toledanischen Erzbischof Raimund (1125– 1152) in Auftrag gegeben worden, der zu dieser Zeit zahlreiche wissenschaftliche Werke übersetzen ließ.
Für diese erste Phase reger Übersetzertätigkeit in Toledo zwischen 1130 und 1187 ist charakteristisch, dass die Werke aus dem Arabischen zunächst in eine alltagssprachliche Zwischenstufe gebracht wurden. Diese diente als Grundlage der lateinischen Übersetzung. Es liegt auf der Hand, dass die Übersetzungen in ihrer |101| Qualität wegen dieses Verfahrens unterschiedlich ausfielen. Zudem erforderte der Umgang mit anspruchsvollen wissenschaftlichen Schriften neben herausragenden sprachlichen Fähigkeiten auch Fachwissen in der jeweiligen Disziplin. Vor allem jüdische Übersetzer waren aufgrund ihrer Sprachkenntnisse häufig in der Lage, die Texte allein aus dem Hebräischen oder Arabischen ins Lateinische zu übertragen. Gewöhnlich jedoch arbeiteten die Übersetzer mit einem Partner zusammen – über Glaubensschranken hinweg. Während die Übersetzung aus der Originalsprache in die Zwischenstufe in der Regel von einem Übersetzer angefertigt wurde, dessen Muttersprache Arabisch war – einem mozarabischen, jüdischen, muslimischen oder zum Christentum konvertierten Gelehrten –, übernahm ein Geistlicher zumeist den lateinischen Feinschliff. Zugleich glättete er den Text in christlichem Sinne an solchen Stellen, wo dies nach seiner Auffassung nötig war. Auf diese Weise entstand in Toledo auch die erste abendländische Übersetzung des Korans.
Initiator dieses Unternehmens war kein Geringerer als Petrus Venerabilis, Abt von Cluny. Im Jahre 1141 war dieser zur Visitation der cluniazensischen Klöster auf der Iberischen Halbinsel nach Toledo gereist. Dort machte er die Bekanntschaft der Gelehrten Robert von Chester und Hermann von Carinthia (Hermann von Kärnten), die sich intensiv dem Studium wie der Übersetzung naturkundlicher, astronomischer und mathematischer Werke widmeten. Petrus Venerabilis beauftragte sie nun, den Koran ins Lateinische zu übersetzen. Unterstützt von dem Mozaraber Petrus von Toledo und einem Muslim namens Mohammed, machten sich die beiden ans Werk. Nachdem die Glaubensinhalte des Islams im Westen weitgehend unbekannt geblieben waren, lag der Koran im Jahre 1143 – fünfhundert Jahre nach seiner Entstehung – in einer lateinischen Übersetzung vor. Diese bildete den Kern der sogenannten »Collectio Toledana«, einer Sammlung übersetzter religiöser Schriften aus christlicher, jüdischer und muslimischer Feder. Dadurch wurde die zuvor geringe Kenntnis des Islams und seiner Glaubensinhalte zumindest in Gelehrtenkreisen beträchtlich erweitert. Die Übersetzer taten sich schwer, die schwierige, poetisch durchdrungene Sprache des Korans und die zahlreichen ver-schlüsselten Andeutungen, rätselhaften Geheimbuchstaben am Beginn vieler Suren und
Weitere Kostenlose Bücher