72 - Der Weg zum Glück 07 - Insel der Gefangenen
bringe ich nicht fertig. Ich bin kein Rinaldini oder Schinderhannes.“
„Ich auch nicht; aber so einen Hieb brächte ich dennoch fertig.“
„So geh lieber du!“
„Nein. Ich will die Ehre dir überlassen. Wirst du ja gestört, so verhältst du dich ganz still und läßt mich sprechen. Also mach!“
Sie standen jetzt an der schmalen, hölzernen Treppe, welche mehr einer Leiter ähnelte. Johannes stieg hinauf, dabei möglichst jedes Geräusch vermeidend.
„Nimm mehrere Stufen auf einmal!“ flüsterte Max ihm zu. „Das gibt weniger Schritte.“
Hans befolgte diesen Rat und machte auch oben auf dem Söller die Schritte so langsam und so weit wie möglich.
Das alte Holz knarrte zwar einige Male, aber so leise, daß es kaum zu bemerken war. So gelangte er also glücklich an den Eingang nach dem Innern des Hauses.
Dieser war nicht mit einer Tür versehen, sondern offen. Hans hatte von Anita gehört, daß sie links eingeriegelt sei, während die anderen Mädchen sich auf der rechten Seite befanden.
Er tastete nach hüben und drüben, indem er hineintrat. Schon nach drei oder vier Schritten fühlte er die beiden einander gegenüberliegenden Türen. Diejenige links war die richtige. Sie war von außen verriegelt, und es galt nun, den Riegel ohne Geräusch zurückzuschieben. Hans machte sehr, sehr langsam, und es gelang. Die Tür knarrte freilich ein wenig, aber doch nicht allzusehr, als er sie öffnete.
„Anita!“ flüsterte er.
„Mein Retter!“ antwortete es ebenso leise. „Gott sei Dank!“
„Sie haben auf mich gewartet?“
„Mit Schmerzen!“
„Ich komme aber doch nicht später, als ich sagte.“
„Und doch war es eine Ewigkeit für mich.“
„So kommen Sie schnell!“
„Ich kann nicht. Ich bin angebunden.“
„Ah, dieser grausame Jude!“
„Er traut mir eben nicht.“
„Ich werde Sie losschneiden. Wo sind Sie?“
„Kommen Sie nach rechts. Hier unten in der Ecke.“
Hans schlich hinein. Er bückte sich und tastete. Er fühlte einen Strohsack, auf welchem das Mädchen lag.
„Die linke Hand ist an der Mauer und die rechte an der Diele festgebunden“, erklärte das gefesselte Mädchen.
Er griff nach diesen Richtungen und fühlte zwei eiserne Ringe, je einen in der Mauer und der Holzdiele, an welche Anita mit Stricken angebunden war. Auf diese Weise wurden ihre Hände so auseinander gehalten, daß sie nicht eine durch die andere befreien konnte.
„Armes Kind!“ klagte Hans. „War das alle Abende so wie heut?“
„Seit ich mich widerspenstig zeigte, ja.“
„Da konntest du ja nicht schlafen!“
„Nein. Es war eine Qual.“
„Du sollst gleich frei sein. Deinen Peiniger aber werden wir exemplarisch bestrafen lassen.“
Er zog sein Messer heraus und schnitt sie los. Sie schnellte empor. Er richtete sich auch auf und fühlte, daß sie nach ihm tastete.
„Anita!“ erklang es mitleidig und doch froh.
„Johannes!“ antwortete sie.
„Du hast dir meinen Namen gemerkt?“
„Oh, den werde ich nie, niemals vergessen, salvatore mio, angelo mio, mein Retter, mein Engel!“
Er fühlte die weichen Arme, welche sie um ihn schlang, und das Köpfchen, welches sie innig an seine Brust drückte.
Ein nie gekanntes, ungeahntes Gefühl durchflutete ihn. Er konnte nicht anders, er mußte auch seine Arme um sie legen und sie an sich drücken. Er beugte sein Gesicht nieder. War es Zufall, daß auch sie das ihrige empor hielt? Ihre Lippen fanden sich zu einem langen, langen aber engelsreinen, keuschen Kuß.
„Johannes!“ flüsterte sie abermals.
„Anita! Welch eine Seligkeit, dich frei zu wissen!“
„Durch dich, durch dich!“
„Oh, nicht durch mich allein!“
„Ist dein Freund mit und wo befindet er sich?“
„Unten im Hof.“
„Er ist ebenso edel wie du?“
„Noch viel besser und edler als ich.“
„Das ist unmöglich!“
„Du kennst mich ja gar nicht!“
„Oh, ich kenne dich, ich kenne dich, als sei ich stets bei dir gewesen.“
Das tat ihm so unbeschreiblich wohl. Er hätte lebenslang so stehen mögen, das schöne Mädchen in seinem Arm; aber er gedachte der augenblicklichen Lage und sagte:
„Wir müssen fort. Komm!“
„Noch nicht, noch einen Augenblick.“
„Warum?“
„Wohin willst du mich führen?“
„Gibt es einen Ort, wohin du wünschest?“
„Ich kenne keinen.“
„So gehst du mit mir?“
„Mit dir, wohin du mich auch führen magst.“
„So werde ich dich zunächst zu einem Freund bringen, zu einem alten, lieben Herrn, bei
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