72 Tage in der Hoelle
überallhin begleitete. Der Gedanke, dass er traurig auf meinem leeren Bett lag oder an der Haustür auf meine Rückkehr wartete, brach mir das Herz. Ich dachte an meine Freunde in Montevideo. Ich träumte davon, meine alten Lieblingsplätze aufzusuchen. Mir fielen all die kleinen Annehmlichkeiten ein – Schwimmen am Strand, Fußballspiele und Autorennen, die Freude, im eigenen Bett zu schlafen, eine Küche voller Lebensmittel. Hatte es wirklich einmal eine Zeit gegeben, in der ich von solchen Schätzen umgeben war, in der ich so viel Glück mit den Händen greifen konnte? Jetzt schien alles so weit entfernt, so unwirklich.
Als ich, von Verzweiflung gequält, in dem feuchten Schnee bibberte und die rohen, feuchten Fleischbrocken kauen musste, die man vor meinen Augen von meinen Freunden abgehackt hatte, konnte ich an alles, was vor dem Absturz gewesen war, kaum noch glauben. In solchen Augenblicken zwang ich mich, an meinen Vater zu denken, und ich gelobte noch einmal, dass ich alles daransetzen würde, um nach Hause zu kommen. Manchmal verschaffte mir das ein Gefühl von Hoffnung und Frieden, aber wenn ich unseren traurigen Zustand und das Entsetzliche um uns herum betrachtete, gelang es mir häufig kaum noch, eine Verbindung zu dem glücklichen Leben früherer Zeiten herzustellen, und zum ersten Mal klang das Gelübde gegenüber meinem Vater hohl. Der Tod kam näher; sein Gestank wurde rund um mich herum stärker. Unser Leiden hatte jetzt etwas Schmutziges, Unanständiges, einen Hauch von Dunkelheit und Verderbtheit, der mich im Innersten schmerzte.
Während der Zeit in den Bergen träumte ich sehr wenig – ich schlief kaum einmal so tief, dass Träume sich einstellen konnten -, aber in einer Nacht unter der Lawine sah ich mich, wie ich mit seitlich ausgestreckten Armen und geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. »Bin ich tot?«, fragte ich mich. »Nein, ich kann denken, ich bin wach!« Plötzlich stand eine dunkle Gestalt über mir. »Roberto? Gustavo? Wer seid ihr? Wer ist da?«
Keine Antwort. In seiner Hand sah ich etwas blinken und erkannte, dass es eine Glasscherbe war. Ich bemühte mich, auf die Füße zu kommen, aber ich konnte mich zu keiner Bewegung zwingen.
»Geht weg! Wer zum Teufel seid ihr? Was macht ihr da?«
Die Gestalt kniete sich neben mich und fing an, mich mit dem Glas zu zerschneiden. Er nahm kleine Fleischstücke aus meinem Unterarm und gab sie anderen Gestalten, die hinter ihm standen.
»Halt!«, schrie ich. »Hört mit dem Zerschneiden auf, ich bin am Leben!«
Die anderen steckten mein Fleisch in den Mund und kauten. »Nein! Noch nicht!«, rief ich. »Zerschneidet mich nicht!«
Der Fremde arbeitete weiter und zerlegte meinen Arm. Ich merkte, dass er mich nicht hören konnte. Dann wurde mir klar, dass ich auch keinen Schmerz spürte.
»Oh Gott! Bin ich tot? Bin ich gestorben? Oh nein, bitte, lieber Gott, bitte...«
Im nächsten Augenblick wachte ich mit heftigem Zucken auf.
»Alles okay, Nando?« Es war Gustavo, der neben mir lag.
Mein Herz hämmerte. »Ich hatte einen Albtraum«, sagte ich.
»Schon gut«, erwiderte er, »jetzt bist du ja wach.«
Ja, sagte ich zu mir. Jetzt bin ich wach, alles ist gut .
Der 31. Oktober, unser dritter Tag unter der Lawine, war Carlitos neunzehnter Geburtstag. Ich lag in jener Nacht im Rumpf neben ihm und versprach ihm, wir würden seinen Geburtstag feiern, wenn wir zu Hause wären. »Ich habe am 9. Dezember Geburtstag«, sagte ich zu ihm. »Dann fahren wir zum Haus meiner Eltern in Punta del Este und feiern alle Geburtstage, die wir verpasst haben.«
»Wo wir gerade bei Geburtstagen sind«, erwiderte er, »morgen haben mein Vater und auch meine Schwester. Ich denke viel an sie, und jetzt bin ich sicher, dass ich sie wiedersehen werde. Gott hat mich vor dem Absturz und der Lawine gerettet, Er will also auf jeden Fall, dass ich am Leben bleibe und zu meiner Familie zurückkehre.«
»Ich weiß nicht mehr, was ich von Gott halten soll«, sagte ich.
»Aber spürst du denn nicht, wie nahe Er uns ist?«, fragte er. »Ich spüre Seine Gegenwart hier ganz stark. Sieh dir nur an, wie friedlich die Berge sind, wie wunderschön. Gott ist an diesem Ort, und wenn ich Seine Gegenwart spüre, dann weiß ich, dass alles gut werden wird.«Wie Carlitos, so hatte auch ich die Schönheit der Berge erkannt, aber für mich war es eine tödliche Schönheit, und wir waren darauf der Makel, den der Berg ausmerzen wollte. Ich fragte mich, ob Carlitos
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