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73 - Der Dukatenhof

73 - Der Dukatenhof

Titel: 73 - Der Dukatenhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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hob die beiden Hände, zog ihr Haupt ganz zu sich heran und küßte sie zweimal, dreimal auf das krause Haar.
    „So mein Kind, meine Anna! Wenn meine Lippen so auf deinem Haar gewesen sind wie jetzt, dann mußt du mich für deinen Vater ansehen und alles tun, was ich dir sage, bis – bis die Rosalia kommt; länger nicht, ja nicht! Denn die bringt den mit, welcher – welcher –“
    Er hielt inne und hob den Kopf ein wenig empor, als ob er lausche. Dann zuckte er zusammen und fuhr in ängstlichem Ton fort:
    „Wenn die kommt, nachher wird es so, wie es jetzt werden wird. Herzle, Herzle bring' die Anna wieder hinab! Schnell, schnell, es ist keine Zeit! Der Zwang ist da, daß ich schlafen muß, dann kommt der andere – der andere!“
    Er legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Das Herzle ging mit der Freundin fort. Als sie wiederkam, schlief er fest und tief. Sie setzte sich an den Tisch. Aber sie begann nicht sogleich wieder zu arbeiten. Es war ein fremder Tisch. Sie durfte mit ihm gar nichts zu schaffen haben, und doch schaute sie unverwandt nach dem Kasten. Wie kam es nur, daß es sie innerlich so fremdartig drängte, diesen Tischkasten aufzuziehen und hineinzusehen? Der Drang war so groß, daß sie ihm gehorchen mußte.
    Als sie es getan hatte, sah sie lauter alte, gleichgültige Sachen liegen, einen alten, leeren Geldbeutel, ein Messer, eine Lichtputze, ein paar Nägel und so ähnliche Sachen. Aber weiter hinten war ein besonderes Fach. Als sie es öffnete, sah sie zunächst ein Buch. Der Titel war: ‚Die Notlage der Handweberei im Erzgebirge. Eine volkswirtschaftliche Studie‘. Sie kannte es. Sie wußte, daß der Herr Lehrer es geschrieben hatte. Als sie es wieder hintun wollte, sah sie, was darunter gelegen hatte, nämlich einen Lochtaler, der an einer Schnur hing. Da begann der Kranke, unruhig zu werden. Er bewegte sich hin und her. Sie achtete aber nicht darauf, weil der Taler ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Sie zog ihn hervor, um ihn zu betrachten. Er war vom Jahre 1846. Zugleich mit ihm hing an der Schnur eine echte, aber ganz verkrüppelte Elsterperle, die infolgedessen keinen Wert besaß. Das Herzle mußte sich zusammennehmen, um nicht laut aufzuschreien. Das war ja der Taler ihres Vaters mit ganz derselben Schnur, mit welcher er an der Uhr gehangen hatte! Sie wäre wohl vor Schreck aufgesprungen; aber der Musterwirt warf sich grad jetzt so ängstlich hin und her, daß sie sich ganz still verhielt. Er stöhnte leise dazu.
    Und was lag noch weiter in dem geöffneten Fach? Ein Paket mit Postquittungen! Sie las die oberste. Zehn Taler an den Seminardirektor! Hatte der Musterwirt etwa auch Geld eingezahlt? Sie mußte das wissen und öffnete das Paket. Das unterste Papier war keine Quittung, sondern ein alter Klöppelbrief, nämlich von der allerersten Spitze, welche das Herzle als kleines Mädchen gearbeitet hatte. Er war von der Mutter zu diesen Quittungen gelegt worden, um ihn gut aufzubewahren, denn das Päckchen bildete ein großes und verschwiegenes Heiligtum, weil niemand erfahren durfte, daß die Mutter und das Herzle es gewesen waren, von deren Spargroschen der Herr Lehrer während seiner Seminarzeit gelebt hatte. Er sollte das niemals im Leben wissen.
    Da gab es drüben bei dem Kranken einen lauten Ruck. Er war bisher so sanft und schwach gewesen. Jetzt hatte er sich absichtlich aufgerichtet und starrte zu ihr hinüber.
    „Wer bist du?“ fragte er mit lauter, kräftiger Stimme. „Bist du etwa das Herzle?“
    „Ja“, antwortete sie.
    „Wie kommst du in meine Stube? Was treibst du hier? Ich kann nicht auf! Dein Stöbern hat mich geweckt! Aber ich werde bald auf können, denn ich habe sie geholt. Sie kommt; sie kommt!“
    Draußen erklangen Schritte, und die Tür, welche jetzt nicht mehr von innen verschlossen war, wurde geöffnet. Fräulein Rosalia trat herein, verschlafen, mit ganz verwirrten Haaren. Sie schaute zunächst gar nicht zum Vater hin, sondern gleich hierher zum Herzle. Nachdem sie die Tür hinter sich zugemacht hatte, sagte sie in gehässigem Ton:
    „Das ist ja schauderhaft! Ich habe aufstehen gemußt und herauf zu dir! Es war eine richtige Todesangst! Die weckte mich aus dem Schlaf. Die warf mich von einer Seite auf die andere. Die brachte mich zum Schwitzen, daß ich am ganzen Körper naß geworden bin! Ich will ja nicht herauf, nicht nicht, nicht nicht! Aber sie war stärker als ich. Sie schob mich aus der Stube und über den Gang hierher. Ich mußte mit

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