73 - Der Dukatenhof
zerrissenen Schleier hindurch; schwarz und gespenstisch ragte die Kirche in die Nacht empor; die Lüfte schwiegen; kein Laut ließ sich hören; kein Lebenszeichen drang über die alten, halb zerfallenen Kirchhofsmauern herein zu den beiden Männern. Da rasselte es plötzlich wie rollendes Eisen im Innern des Turmes; die Kirchenuhr hatte ausgehoben; ihre vom Rost zerfressene Maschinerie erzitterte, krachte und stöhnte unter der Schwere der Gewichte, und mit tiefen, mahnenden Schlägen ertönte die zwölfte Stunde durch das Tal. Als der letzte Ton verklungen war, begann der Dukatengraf:
„O Ewigkeit, du Donnerwort,
O Schwert, das durch die Seele bohrt.
O Anfang sonder Ende.
O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,
Vielleicht schon morgen oder heut'
Fall ich in deine Hände.
Mein ganz erschrock'nes Herz erbebt,
Daß mir die Zung' am Gaumen klebt!“
So wenig sich Franz um die Leute zu kümmern pflegte, er hatte doch von dem Verhalten Heinrichs an dem Grab Annas gehört, und darum wußte er, was das Lied in der jetzigen Stunde bedeuten solle. Der heutige Tag hatte die Versöhnung zu schnell von ihm gefordert, als daß sich nicht ein Rest des alten, langgenährten Hasses in irgend einem Winkel seines Herzens hätte verbergen können, aber was davon ja noch übrig geblieben war, das wurde durch die Erschütterung des gegenwärtigen Augenblicks gelöst und wich der tiefen Reue des einst so harten, jetzt aber schwer getroffenen Sünders. Dieser fuhr nach einer kurzen Pause fort:
„Wach' auf, o Mensch, vom Sündenschlaf.
Ermunt're dich, verlor'nes Schaf,
Zu einem neuen Leben.
Wach' auf, denn es ist hohe Zeit,
Und dich ereilt die Ewigkeit,
Dir deinen Lohn zu geben.
Zeig' reuig deine Sünden an,
Daß dir die Gnade helfen kann!“
„Amen!“ erscholl es von vier Lippen; Franz reichte seine Hand zum zweiten Mal über das Grab hinüber, indem er sagte:
„Das Lied hat nur dir gegolten, Heinrich, aber es hat auch mich getroffen. Du hast deine Sünden angesagt, und darum soll dir auch die Gnade helfen. Was das sagen soll, das wirst du bald von mir hören. Jetzt aber bitte ich, geh', Heinrich! Laß mich allein hier bei der Anna. Was zermalmt gewesen ist in mir, das ist heute plötzlich heil geworden, aber mein armer Kopf ist's nicht gewöhnt und muß hier ruhen, bis er's ertragen kann. Schlaf wohl!“
„Gute Nacht! Segne dir's Gott tausendmal, was du heute an mir getan hast. Ich vergeß dir's nimmer!“
Er verließ den Kirchhof. Als er den Hof erreichte, fand er das Tor noch offen. Emma hatte auf ihn gewartet, und Wilhelm befand sich bei ihr. Sie hatten Sorgen um ihn gehabt und waren ihm nun behilflich, die Treppe hinauf in seine Stube zu kommen. Dort blieb der junge Mann bei ihm zurück.
„Ich möchte Sie gern etwas fragen, Herr Graf“, begann er, als Emma sich entfernt hatte, „und darum bin ich so lange auf dem Hof geblieben. Darf ich?“
„Frag' nur immer, Wilhelm! Wenn ich kann, so werde ich dir gern Bescheid sagen.“
„Sie haben nun wohl auch davon gehört, daß ich für die Pakete, die ich damals im Wald fand, Geld bekommen hab. Das mag ich nicht behalten! Ich hab's zwar nicht gestohlen, aber ich hab's doch mit Gewalt dem abgenommen, der's für die Ware gegeben hat. Nun möcht ich's wohin legen, wo der es finden kann, dem's gehört. Darf ich Ihnen den Ort sagen, damit Sie mir der Zeuge sind, wenn es vielleicht mal nötig sein sollte?“
„Wilhelm, du bist ein braver Mensch, das sehe ich jetzt schon wieder. Mit dem Schweigen über die beiden Leute, die du damals getroffen hast, da sollst du deinen Willen haben, aber das Geld, das behalte in Gottes Namen. Den du meinst, der nimmt es doch nicht wieder, und weil du es hast, grad erst recht nicht. Und wenn du die Emma wirklich lieb hast, so kannst's doch wohl gebrauchen.“
„Ist's denn auch wahr, daß ich sie nehmen darf? Sie ist das Kostbarste, was ich nebst den Eltern habe, und wenn sie meine Frau ist, so soll es sicher keinen anderen geben, der Ihnen ein guter Sohn ist so wie ich!“
„Ja, du sollst sie haben, hier meine Hand darauf! Ich denke, daß du sie nichts entgelten läßt von dem, was an dem Vater nicht recht gewesen ist.“ –
Seit langen, langen Jahren war es heute das erste Mal, daß Heinrich sich mit der Genugtuung zur Ruhe legte, welche die Erfüllung einer Pflicht als Segen mit sich bringt. Sein Schlaf war fest und ungestört, und als er erwachte, fühlte er sich nicht nur körperlich gestärkt, sondern auch innerlich befestigt, und die Zukunft
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