74 - Mein Leben und Streben
Dieses Gesicht errötete leicht. Es hatte einen ganz eigenartigen, geheimnisvollen Augenaufschlag. Und wenn ein Wort über die Lippen kam, so klang es vorsichtig, erwägend, gar nicht wie bei andern Mädchen, die alles grad so herausschwatzten, wie es ihnen auf die Zunge läuft. Das gefiel mir sehr. Ich erfuhr, daß ihr Großvater, nämlich Pollmer, meine ‚Geographischen Predigten‘ gelesen hatte und sie immer wieder las. Das gefiel mir noch mehr. Sie erschien mir von ihren Freundinnen ganz verschieden. Hinter den Gestalten der letzteren sah ich keine Spur von Geist und nur einen Hauch von Seele. Hinter der Pollmer aber lag psychologisches Land, ob Hoch- oder Niederland, ob Wüste oder Fruchtbarkeit, das konnte ich nicht unterscheiden, aber Land war da; das sah ich deutlich, und es entstand der Wunsch in mir, dieses Land kennenzulernen. Daß sie nicht aus einer wohlhabenden oder gar vornehmen Familie stammte, konnte mich nicht verhindern, ich war ja selbst auch nur ein armer Webersohn und eigentlich viel weniger als das.
Am nächsten Tag kam ihr Großvater zu mir. Sie hatte ihm von mir erzählt und in ihm den Wunsch erweckt, mich nach der Lektüre meiner ‚Predigten‘ nun auch persönlich kennenzulernen. Er schien von mir befriedigt zu sein, denn er forderte mich auf, nun auch ihn zu besuchen. Ich tat es. Es entwickelte sich ein Verkehr zwischen uns, der dann, als ich meinen Besuch beendet hatte und wieder nach Dresden ging, sich aus einem persönlichen in einen schriftlichen verwandelte. Aber Pollmer schrieb nicht gern. Die Briefe, die ich bekam, waren von der Hand seiner Enkeltochter. Wer hätte jemals gedacht, daß ich mit dem ‚Nickel‘, der einem ‚nur Unheil bringt‘, in Korrespondenz treten würde!
Ihre Zuschriften machten einen außerordentlich guten Eindruck. Sie sprach da von meinem ‚schönen, hochwichtigen Beruf‘, von meinen ‚herrlichen Aufgaben‘, von meinen ‚edlen Zielen und Idealen‘. Sie zitierte Stellen aus meinen ‚Geographischen Predigten‘ und knüpfte Gedanken daran, deren Trefflichkeit mich erstaunte. Welch eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau! Zwar kam es mir zuweilen so vor, als ob nur ein männlicher Verfasser, und zwar ein sehr gebildeter, solche Briefe schreiben könne, aber es war mir nicht möglich, sie eines solchen Betruges für fähig zu halten. Meine Schwester schrieb mir auch. Sie floß vom Lob ‚Fräulein Pollmers‘ über und lud mich für die Weihnachtsferien ein, sie wieder zu besuchen. Ich tat es. Ich vergaß, daß grad die Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist und daß ich vor der Stelle, an der ich geboren wurde, gewarnt worden bin. Diese Weihnacht entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte. Ich hatte ja Zeit. Diese Zeit verbrachte ich meist auf Reisen, bis ich mich zu Pfingsten wieder in der Heimat einstellte, um das Seelenstudium des ‚Nickels‘, der nun ‚mein Nickel‘ werden sollte, weiter fortzusetzen. Aber es kam nicht zu dieser Fortsetzung, sondern gleich zu einer Entscheidung, wie sie sonst nur auf der Bühne zu sein pflegt. Nämlich als Pollmer erfuhr, daß ich wieder da sei, besuchte er mich und lud mich zu sich zum Mittagessen ein. Er war längst Witwer, und seine Familie bestand nur aus ihm und seiner Enkeltochter. Ich wußte, daß er sich überall nur höchst lobend über mich aussprach und daß meine Vorstrafen ihn ganz und gar nicht hinderten, mich für einen guten, vertrauenswürdigen Menschen zu halten. Aber ich wußte auch, daß er sein Enkelkind für das schönste und wertvollste Wesen der ganzen Umgegend hielt und daß er ganz märchenhafte Gedanken in Beziehung auf dessen Verheiratung hatte. Er war der Ansicht, daß solche strahlende Schönheiten der größte Reichtum ihrer Familie seien und nur möglichst reich und vornehm verheiratet werden dürfen. Ganz selbstverständlich konnte diese seine Meinung nicht ohne Einfluß auf seine Enkeltochter geblieben sein; das bemerkte ich sehr wohl; und vielleicht war es die höchste Zeit, sie diesem Einfluß zu entziehen. Ich antwortete darum, als er mich bat, heut bei ihm zu Mittag zu essen:
„Sehr gern, doch nur unter der Bedingung, daß ich nicht nur Ihretwegen, sondern auch um Ihrer Tochter willen kommen darf.“
Er horchte überrascht auf.
„Um Emmas willen?“ fragte er.
„Ja.“
„Wie meinen Sie das? Haben Sie Absichten auf sie? Wollen Sie sie etwa heiraten?“
„Allerdings.“
„Alle Wetter! Davon weiß ich kein Wort! Das ist
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