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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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daß ich die sonderbare Eigentümlichkeit besitze, die Menschen mehr seelisch als körperlich vor mir zu sehen. Ob das ein Vorzug oder ein Nachteil ist, kann nicht ich entscheiden; aber infolge dieser meiner Eigenheit kommt es nicht selten vor, daß ich eine häßliche Person schön und eine schöne häßlich finde. Die interessantesten Wesen sind mir die, deren seelische Gestalt mir rätselhaft erscheint, deren Konturen ich nicht erkennen kann oder deren Kolorit ich nicht begreife. Solche Personen ziehen mich an, selbst wenn sie abstoßend wirken; ich kann nichts dafür. Und mit dem Mädchen, von dem ich hier spreche, hatte es noch eine andere, ganz eigentümliche Bewandtnis. Nämlich als ich, vierzehn Jahre alt, Proseminarist in Waidenburg war, ging ich eines Novembertages von dort nach Ernsttal zu den Eltern, um meine Wäsche zu holen. Auf dem Rückweg kam ich über den Hohensteiner Markt. Da wurde gesungen. Die Kurrende stand vor einem Haus. Es war da eine Leiche, die beerdigt werden sollte. Ich kannte das Haus. Unten wohnte ein Mehlhändler und oben eine von fremdher zugezogene Persönlichkeit, die man bald als Barbier, bald als Feldscher, Chirurg oder Arzt bezeichnete. Er barbierte nicht jedermann, und es war bekannt, daß er noch weit mehr konnte als das. Sein Name war Pollmer. Er hatte eine Tochter, die man für das schönste Mädchen der beiden Städte hielt; das wußte ich. Die sollte jetzt begraben werden. Darum blieb ich stehen. Zwei Frauen, die auch zuhören und zusehen wollten, stellten sich hinter mich. Eine dritte kam hinzu, die war vom Dorf, sie fragte, was das für eine Leiche sei.
    „Pollmers Tochter“, antwortete eine der beiden ersten Frauen.
    „Ach?! Dem Zahndoktor seine? Woran ist denn die gestorben?“
    „An ihrem eigenen Kind. Besser wäre es, dieses wäre tot, sie aber lebte noch. Auf so einem Kind, an dem die Mutter stirbt, kann niemals Segen ruhen; das bringt jedermann nur Unheil.“
    „Was ist denn der Vater?“
    „Der? Es hat ja keinen!“
    „Du lieber Gott! Auch das noch? Da wäre es freilich besser, der Nickel könnte gleich mitbegraben werden!“
    Jetzt hörte der Gesang auf. Man brachte den Sarg heraus. Der Leichenzug bildete sich. Droben am offenen Fenster der Wohnstube erschien eine weibliche Person, welche etwas auf den Armen trug. Das war das Kind, der ‚Nickel‘, der seine eigene Mutter getötet hatte und jedermann Unheil brachte! Ich verstand von dem allem nichts. Was weiß ein vierzehnjähriger Junge von den Vorurteilen dieser Art von Menschen! Aber als der Leichenzug an mir vorüber war, und ich meinen Weg fortsetzte, nahm ich etwas mit, was mich später noch oft beschäftigte, nämlich die Frage, warum man sich vor einem Kind, welches keinen Vater hat und schuld an dem Tod seiner Mutter ist, in acht nehmen muß. Ich glaubte infolge meiner Jugend und Unerfahrenheit an das, was die alten Weiber gesagt hatten, und fühlte eine Art von Grauen, sooft ich an dieses Leichenbegräbnis und an den unglückseligen ‚Nickel‘ dachte. Sobald ich später über den Hohensteiner Markt kam, schaute ich ganz unwillkürlich nach dem betreffenden Fenster in der Oberstube des Mehlhändlerhauses. Nach Verlauf einer Reihe von Jahren sah ich einmal den Kopf eines Kindes, eines Mädchens, herausschauen. Ich blieb für einen Augenblick stehen, um das Gesicht zu betrachten. Es war nichtssagend und hatte weder etwas Wohltuendes noch etwas Fürchterliches an sich. Später begegnete ich einmal auf der Gasse einem stark gebauten, hochgewachsenen Mann, der ein ungefähr zwölfjähriges Mädchen an der Hand führte. Das war der alte Pollmer mit seinem ‚Nickel‘. Der Alte sah sehr ernst, das Kind aber recht munter und freundlich aus; es hatte gar nichts an sich, was verriet, ‚daß seine Mutter an ihm gestorben war‘. Dann habe ich es noch verschiedene Male gesehen, als angehenden Backfisch, bleich, lang aufgeschossen, überaus schmal, ganz uninteressant, ein vollständig gleichgültiges Wesen. Nie hätte ich gedacht, daß dieses Mädchen jemals in meinem Leben eine wenn auch nur unbedeutende Rolle spielen könne. Und nun ich jetzt bei meiner Schwester wohnte, wurden mir bei einer ihrer Freundinnen einige junge Mädchen vorgestellt, unter denen sich auch ein ‚Fräulein Pollmer‘ befand. Das war der ‚Nickel‘; aber er sah ganz anders aus als früher. Er saß so still und bescheiden am Tisch, beschäftigte sich sehr eifrig mit einer Häkelei und sprach fast gar kein Wort. Das gefiel mir.

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