760 Minuten Angst
auszukurieren. Auch wenn sie diese Tatsache gerne verdrängte, so musste sie sich doch eingestehen, dass sie krank war.
Emilie musste unweigerlich an früher denken. Auch da war sie öfters einmal krank geworden und dann war immer ihre Mama für sie dagewesen. Sie konnte regelrecht den Duft ihrer Hühnersuppe riechen und wenig später die Aromen auf ihren Lippen schmecken.
Sie hatte sich immer auf dem Sofa in ihre Decke gekuschelt und dabei ihre Lieblingssendung angesehen. Mama war daraufhin mit Kamillentee und einer Wärmflasche aufgetaucht und wenn sie ein wenig Zeit erübrigen konnte, dann war sie zu Emilie unter die Decke gekrochen.
Es war eine schöne Zeit gewesen.
Emilie kamen Tränen.
Sie dachte gerne an früher, denn sie wollte ihre Mama nicht vergessen, doch andererseits schmerzte es jedes Mal aufs Neue. Denn sie wusste, dass jeder noch so schöne Moment Vergangenheit war und niemals mehr in die Gegenwart oder Zukunft zurückkehren würde. Emilie war nicht dumm, sie wusste ganz genau, dass Glück in ihrem Leben keinen Platz mehr hatte.
Mit einem großen Schluchzer wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und versuchte sich selbst zu beruhigen. Wenn Papa sie so sehen würde, würde er nur wieder böse werden. Das wollte sie auf keinen Fall.
So musste das Kochen als Ablenkung herhalten. Die Schnitzel wurden fertig angebraten, dann kamen die restlichen Zutaten dazu und wurden mit einer Soße vollendet. Auch die Koketten erreichten ihren krossen Zustand und es konnte angerichtet werden.
Gerade rechtzeitig.
Denn Papa kam nach Hause!
Ich schaltete das Lied aus. Kaum war die Musik verklungen, wurde ich aus meiner Vergangenheit zurück in die Gegenwart geschleudert. Es war besser so.
Obwohl es die heutige Situation gar nicht geben würde, wenn damals nicht gewesen wäre. Doch war es nicht immer so? Unsere Vergangenheit bestimmt die Gegenwart und ebnet die Zukunft. Was wäre wenn …
Mit diesen drei Worten hatte ich schon so viele Male zu kämpfen gehabt und am Ende war ich immer an demselben Punkt angelangt. An diesem Tag.
Ob es nun richtig oder falsch war, verkam mehr und mehr zur Nichtigkeit. Mein Herz verlangte danach und mein Kopf fügte sich. Es war nicht von heute auf morgen passiert, aber irgendwann verloren Vernunft und Verstand an Bedeutung. Ethik, Moral und Menschlichkeit hatte keinen Wert mehr. Alles was zählte, war der Schmerz.
Und nun war er hier.
Die Schnitzeljagd hatte begonnen und die »Spieler« hatten sich entschieden. Ich konnte es deutlich auf dem Bildschirm verfolgen.
Das Programm von vorhin dominierte den Monitor des Laptops. Vorher waren sämtliche Namen der rechten Spalte grau gewesen, nun erstrahlten fast alle in Farbe. Stella in Gelb. Benjamin in Rot. Richard in Grün. Valentina in Violett. Nur Jakob blieb Grau.
Sobald einer der Spieler seine SMS öffnete, übertrug das Handy ein Signal an seinen Laptop und aktivierte das jeweilige Benutzerkonto. Das GPS reagierte und die Standorte in Form von farbigen Kreisen erschienen über dem Kartenausschnitt, der den größten Teil des Programms ausmachte.
Ich sah mir meine einzelnen Spieler genauer an. Da war Stella, die sich in der Spiegelgasse befand. Benjamin, der noch immer in seiner Wohnung war, genau wie Richard. Valentina verbrachte ihre Zeit weiterhin in der Fürst-Anselm-Allee. Alles vollkommen in Ordnung. Ich war zufrieden. Noch verlief alles nach Plan.
Nur Jakob bereitete mir Sorgen.
Sein Name war weiterhin grau hinterlegt, was bedeutete, dass er seine Textnachricht nicht gelesen hatte. Keine positive Entwicklung. Es half nichts, ich musste wissen, was Spieler Blau tat.
Ich drückte ein paar Tasten und aktivierte dadurch das GPS Signal des blauen Handys. Laut dem Punkt befand sich Jake in dem gewünschten Wohnhaus der Isarstraße. Vermutlich noch im Keller. Es war also noch nicht alles verloren. Trotzdem …
Warum liest du meine Nachricht nicht, Jakob? Du willst doch nicht jetzt schon aussteigen? Ich hoffe nicht …
Natürlich hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich wohl reagieren würde, wenn ein Spieler sich weigerte und ich fand meine Alternativen passend. Doch würde Jakob das auch so sehen?
Ich ließ kurz von dem Bildschirm ab, lehnte mich im Stuhl zurück und versuchte zur Ruhe zu kommen. Ich durfte nicht jetzt schon die Nerven verlieren. Es war noch ein weiter Weg und gerade jetzt begann der spannende Teil der Schnitzeljagd.
Seine erste Textnachricht war nur ein Bestandteil der Vorprüfung.
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