77 Tage
darüber nachzudenken, veröffentlicht. Gepostet, wie man das in der Bloggersprache nannte. Komischerweise hatte ich mich danach ein kleines bisschen besser gefühlt.
Danner musterte mich kritisch, nachdem ich die Sicherheitskette losgefummelt hatte und ihn in die Wohnung ließ. Er roch süßlich, nach Parfüm und Likör. Seine Mütze warf er in die Garderobe, dann fiel sein Blick auf den Turnschuh auf dem Couchtisch.
»War was?«, erkundigte er sich.
Meine Entscheidung stand. Ich würde nicht mehr weglaufen.
»Nix Besonderes«, schüttelte ich den Kopf.
Danner warf meinen Schuh in Richtung Garderobe und wischte mit dem Ärmel den Schmutz vom Marmor. »Ungelogen?«
Was sollte ich sagen? Mein bescheuerter Bruder ist aufgekreuzt und ich mach mir vor Angst den Schlüpfer nass? Mir fehlte jede Lust auf eine Psychoanalyse meiner Kindheitstraumen.
»Sollte es mich etwa stören, dass mein Freund mit einem Schwulen ausgeht, erst nach Mitternacht wieder aufkreuzt und riecht wie meine Oma beim Tanztee?«, lenkte ich ab.
Danner schnupperte an seinem T-Shirt. »Ich dachte schon, ich müsste mir auch noch die Eier enthaaren, um dich endlich eifersüchtig zu machen«, grinste er und kippte mich auf den Rücken.
Im nächsten Moment lag er auf mir, sein Gewicht drückte mich in die durchgesessenen Polster, eine einzelne Feder pikste mir in den Po. Ich schmeckte seine Zunge, warm, fordernd und ungewohnt süß vom Likör. Die alte Angst, die mir bei Claudius’ Drohungen wie eine erschrockene Katze in den Nacken gesprungen war, zog ihre Krallen ein und sauste mit borstigem Schwanz aus der Wohnung. Danner küsste sich an meinem Hals hinab, seine rauen Hände fuhren unter meinen Pulli, schoben ihn hoch. Sein Kinn kitzelte ein klein wenig kratzig auf meinem Bauch und der Besuch meines Bruders schien nur noch ein verschwommener Albtraum zu sein.
»Eins kann ich dir versprechen«, sagte Danner, während er mir den Pullover über den Kopf zog und seinen Gürtel öffnete. »Schwul bin ich nicht.«
Tag 19
BELLAS BLOG:
DIENSTAG, 18.22 UHR
Morgen hat Sina Geburtstag. Ich hasse Geburtstage.
Es gibt Dinge, die kann man niemandem erzählen. Da braucht man schon ein anonymes Weblog, um sie mal loszuwerden. Zum Beispiel die Sache mit den Ersatzgeschenken.
Mittlerweile habe ich drei Geschenke für Sina: erstens die letzte Rotweinflasche, die wir zusammen getrunken haben. Mit rotem Lampenöl gefüllt und einem Docht versehen taugt sie als dekorative Kerze. Kostete gerade mal zwei Euro. Zu wenig. Wir haben uns auf circa fünfzehn Euro für ein Geschenk geeinigt. Also habe ich zweitens eine teurere Dekolaterne besorgt. Teelichthalter kann man nie genug haben, sagt Sina immer. Mittlerweile besitzt sie geschätzte tausend Teelichthalter. Mir kam der Verdacht, dass das vielleicht doch langsam ausreicht. Also habe ich drittens ein Buch gekauft. Einen Liebesroman. Dann fiel mir das derzeitige Dieter-Dilemma ein.
Also habe ich Weinflasche, Laterne und Buch in meinem Schrank für Ersatzgeschenke verstaut. Ein ausrangierter Kleiderschrank, voll mit Dingen, die ich irgendwann mal verschenken wollte.
Jetzt gehe ich los und hole für fünfzehn Euro einen Tankgutschein.
12.
»Ach, kommt heute gar nicht Frau Sundermann?« Die alte Frau mit der grauen Hochsteckfrisur, die uns in einem ungefähr hundert Jahre alten Nachthemd öffnete, versuchte gar nicht erst, ihre Enttäuschung zu verbergen.
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn es war bereits das dritte Mal, dass wir mit diesen Worten begrüßt wurden.
Meine Begleiterin – heute die kupferrot gefärbte Leiharbeiterin Sonja Meierhoff – bemerkte mein Grinsen. Schlecht gelaunt war sie eh schon gewesen und prompt verhärtete sich ihre Miene noch mehr.
»Frau Sundermann hat diese Woche Spätschicht, Frau Küppers«, klärte sie die Patientin auf.
Frau Küppers war ungefähr genauso alt wie ihr Nachthemd. Eine schmächtige, kleine Person mit stark gekrümmtem Rücken, die auf eine Krücke gestützt mit unsicheren Schritten durch den engen, düsteren Flur tippelte.
Die ganze Wohnung war eng und düster. Frau Küppers schien eine Vorliebe für schwere, alte Möbel aus dunklem Holz zu haben. Zusammen mit dem grauschwarzen Teppich und der ausgeschalteten Deckenlampe erinnerte das Ambiente an eine bewohnte Gruft.
Osteoporose, Knochenschwund, hatte mir Sonja Meierhoff widerwillig erklärt. Außerdem beginnende Demenz – und ausgeprägter Geiz, eine anstrengende
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