77 Tage
Rucksack packen, mich in den nächsten Zug setzen und in irgendeiner anderen Stadt als obdachlose Gewohnheitslügnerin neu anfangen?
Nein.
Nein, nein, nein!
Wütend schnappte ich den nächstbesten Turnschuh und pfefferte ihn gegen die Wand über dem Sofa.
Ich wollte nicht mehr weglaufen! Ich wollte keine Angst mehr haben. Nie wieder!
Mein Schuh prallte mit einem dumpfen Knall ab, hinterließ einen braunen Fleck an der Tapete und landete auf der marmornen Platte des Couchtisches. Die Dreckkruste rieselte von der Sohle herab.
Ich schlang meine Arme um meinen zitternden Körper. Ich brauchte dringend einen Füller.
Tag 16
BELLAS BLOG:
SAMSTAG, 12.09 UHR
Ich mag Wochenenden nicht besonders.
Das liegt daran, dass Mario die ganze Zeit zu Hause ist.
Hm. Klingt, als wäre schon zwei Wochen nach unserer Hochzeit etwas mit unserer Ehe nicht in Ordnung. Es liegt wohl an dieser Baustelle bei Osnabrück. Seit einem halben Jahr arbeitet Mario dort. Unter der Woche habe ich das Gefühl, wieder allein zu leben. Nach zehn Jahren Beziehung.
Ich habe Frühschicht von sechs bis vierzehn Uhr. Oder Spätschicht von vierzehn bis zwanzig Uhr. Den größten Teil des Tages bin ich allein zu Hause. Anfangs konnte ich mich nicht mal erinnern, womit ich meine Freizeit verbracht habe, bevor ich Mario kannte.
Mario ist ein aktiver Mensch. Nicht, dass das schlecht wäre. Nur anstrengend. Er hat einfach immer etwas zu tun. Ständig findet er etwas an unserem Haus, was ihm nicht gefällt. Etwas, was seine Kumpel beim Bau verpfuscht haben. Was nun eine akute Einsturzgefahr darstellt. Mario saniert praktisch ständig einen knapp zwei Jahre alten Neubau. Als würde er bei der Arbeit nicht genug handwerkeln.
Unsere gemeinsame Freizeit verbringe ich gewöhnlich damit, Mario Werkzeug anzureichen. Oder dabei zuzusehen, wie er die Plastikabdeckungen unserer Steckdosen abschraubt.
Die Elektrik unseres Hauses ist sein größtes Hobby. Leider hat er nicht die leiseste Ahnung davon. Im besten Fall verursacht er einen Kurzschluss. Im schlimmsten Fall muss ich ihn Sonntagnachmittag in die Notaufnahme fahren.
Danke schön auch.
Worüber schreibe ich eigentlich gerade?
Ach ja, gemeinsame Aktivitäten am Wochenende.
Sollte das Haus gerade nicht renovierungsbedürftig sein, hat mit Sicherheit ein Mitglied seiner Familie Geburtstag. Wie gesagt, feiern ist ein Hobby von ihnen.
Oder einer seiner Kumpel wird dreißig. Und wir müssen ihm einen Sechzehntonner Korken vor die Tür kippen. Oder ein Mitglied des Mutti-Klubs bekommt sein vierundzwanzigstes Baby. Dann nennt sich das Besäufnis ›Pinkelparty‹.
Oder es ist schon März. Höchste Zeit, das erste Schnitzel zu grillen. Bei knapp zehn Grad über null.
Oder es ist zufällig gerade wieder Weihnachten.
Oder Ostern.
Oder Muttertag.
Oder Vatertag.
Oder Valentinstag.
Oder eben unsere Hochzeit.
Oder irgendwas anderes.
Mit zweiunddreißig bin ich einfach zu alt für den ständigen Partystress.
Ich lese gern in meiner Freizeit. Und gehe inlineskaten. Und schreibe Tagebuch. Habe ich herausgefunden. Dank der Baustelle bei Osnabrück.
In ein paar Monaten wird Mario wieder pünktlich um fünf zu Hause sein. Und ich werde ein Problem haben, mit so wenig Freizeit auszukommen.
11.
Mir stockte der Atem, als das Schloss der Wohnungstür klackte. Die Klinke rüttelte auf und ab.
Einmal, zweimal drehte sich der Schlüssel, bevor die Tür sich öffnen ließ – nur um im nächsten Moment in die Sicherheitskette zu rasseln.
»Was zum Teufel soll das denn?«, fluchte Danner im Treppenhaus.
Erleichtert schälte ich mich aus der dicken Wolldecke, in die eingemummelt ich auf dem Drehstuhl vor dem PC gehockt hatte.
Nachdem ich Claudius aus der Wohnung geworfen hatte, hatte ich natürlich Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Ein zweites Mal ließ ich mich nicht überrumpeln. Vor allem, weil sich mein Bruder auch kein zweites Mal von mir hinausjagen lassen würde.
Nachdem Claudius verschwunden war, hatte ich versucht, weitere Nachforschungen über Janine Hinze anzustellen. Ich wollte nicht zulassen, dass Claudius’ Auftauchen mich von meiner Arbeit abhielt. Aber es war unmöglich gewesen, meine Gedanken zurück auf die bloggergirls zu lenken.
Zu brutal drängte sich mein Bruder in meinen Kopf, wie er sich zuvor in meine Wohnung gedrängelt hatte, in mein Leben. Vor Wut darüber hatte ich kurzerhand selbst einen Blog eröffnet, einen gehässigen Artikel über große Männer geschrieben und ihn, ohne lange
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