77 Tage
eintippte, landete ich auf einer auffällig gestalteten Seite. Oben rechts neben der verschnörkelten Überschrift Gülcans Meinung zeigte ein Bild eine von schräg hinten fotografierte Frau mit lackschwarzem, langem Haar. Ich war mir nicht sicher, ob es tatsächlich ein Foto von Gülcan war.
Die linke Hälfte des Bildschirms war hell mit schwarzer Schrift, auf der rechten Seite, über die die dunkle Mähne der fotografierten Frau wallte, leuchtete umgekehrt weiße Schrift auf schwarzem Untergrund.
Als ich anfing, den aktuellsten Text zu lesen, hob ich erstaunt die Augenbrauen.
Konnte das sein? War die Gülcan, die ich beim Pflegedienst kennengelernt hatte, tatsächlich Spitzenkandidatin für den Stadtrat? Diese virtuelle Gülcan schrieb ihre Meinung über den Atomausstieg, das Aussterben der Bienen, die Vorteile des Fleischverzichts, die Schlüsselrolle der türkischen Frau für die erfolgreiche Integration, die Erderwärmung und die Auswirkungen von pupsenden Walfischen auf das Weltklima.
In den Texten fand ich kaum Rechtschreibfehler und ich musste mir eingestehen, dass ich irgendwie Schwierigkeiten hatte, diese intelligenten Artikel mit der türkischen Pflegehelferin zusammenzudenken.
Sicherheitshalber googelte ich die Grünen in Bochum. Gleich im zweiten Ergebnis wurden Gülcan Aydin und ihr Engagement für die Gleichstellung von Frauen erwähnt. Gülcan war eine Latzhosenträgerin. Eine emma – Abonnentin. Und das sah man ihr gar nicht an.
Über mich, lautete eine Rubrik von Gülcans Meinung. Dort fand ich eine Kurzbiografie.
Gülcan war in Deutschland geboren und aufgewachsen, dabei aber streng muslimisch erzogen worden. Nach einer kurzen und unerfreulichen Ehe mit einem Cousin zweiten Grades war Gülcan scheidungswillig und schwanger von ihrer Familie vor die Tür gesetzt worden. Während des anschließenden Aufenthaltes im Frauenhaus entdeckte sie ihr Interesse an den Frauenrechten.
Gülcan lieferte mir freundlicherweise einen Riesenhaufen Informationen frei Haus. Und wenn ich an das Shirt von Janine dachte, war es nicht unwahrscheinlich, dass ich auch über die Brezel sehr schnell sehr viel mehr in Erfahrung bringen konnte.
Selbstzufrieden grinste ich in mich hinein. Ich war wieder im Rennen um den Titel ›Schnüffler des Monats‹. Das musste Danner mit seinem Date erst mal toppen.
Die Türklingel riss mich aus meinen Gedanken.
Wer war das denn? Abends nach zehn?
Danner sicher nicht, so schnell konnte nicht einmal er ermitteln. Außerdem konnte ich mich nicht erinnern, dass er je seinen Schlüssel vergessen hätte.
Und Molle klopfte immer.
Unsere Auftraggeberin, mit einem Notfall? Vielleicht ein neuer Todesfall? Eher nicht, Elsbeth van Pels war nicht der Typ für Notfälle.
In Socken schlurfte ich los.
Kaum hatte ich die Klinke gedrückt, schnellte eine Hand vor und stieß mir die Tür vor die Brust.
Ich prallte zurück.
Der große Kerl im langen, dunklen Mantel nutzte den Überraschungseffekt und drängte sich herein.
»Claudius!«
Das konnte nicht sein! Ich hatte das Gefühl, der Boden wankte. Das ganze Haus schien zu zittern, um in den nächsten Sekunden in sich zusammenzufallen.
»Sieh an. Du erinnerst dich sogar an meinen Namen. Du überraschst mich«, spottete Claudius und drückte die Tür hinter sich zu.
Mein Bruder war größer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Einen ganzen Kopf größer als ich. Irgendwie musste er in meiner Vorstellung geschrumpft sein, denn mit fünfundzwanzig war er wohl kaum noch mal gewachsen. Er war breitschultrig und blond, mit einem schmal rasierten, hellen Bart, der seinen kantigen Unterkiefer noch kantiger wirken ließ. Die Kinnbehaarung war neu.
»Verschwinde!«, zischte ich tonlos.
Doch Claudius stand bereits mitten im Wohnzimmer. Danners Wohnzimmer. Meins!
»Was willst du von mir?«, krächzte ich heiser.
»Wie bitte? Was ich von dir will?« Die Muskeln seiner Wangen spannten sich zu harten Wölbungen, als er die Kiefer aufeinanderpresste. Eine irritierend bekannte Mimik, die mich weiter zurückweichen ließ. »Das solltest selbst du dir denken können.«
Richtig, blöde Frage. Er kam, um mich zurückzuholen.
Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für einen Geistesblitz, der mich aus dieser Situation befreite. Geistesblitze waren doch sonst meine Spezialität! Doch ich spürte genau, wie mein Gehirn zusammen mit meiner Stimme in den Generalstreik ging. Spürte das alte Lähmungsgefühl, das mich jahrelang daran gehindert hatte, zu
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