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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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Eltern, des Ehemannes, Kinderlosigkeit.
    Das Album erinnerte daran, dass Karin Küppers nicht immer eine kauzige Oma gewesen war, sondern auch ein Kind, das sich mit seinen Geschwistern vor Fliegerbomben im Keller versteckt hatte, eine Krankenschwester im Krieg, eine verliebte Braut und eine engagierte Pastorenfrau.
    »Wie soll ich mich denn mit diesem Waschlappen abtrocknen? Geben Sie mir ein anständiges Handtuch!«
    Und sie war eine Frau, die es sich auch im Alter nicht bieten lassen wollte, in einen Jogginganzug gesteckt zu werden, wenn sie Lust auf eine Bluse hatte.
    Nur mit einem Schlüpfer bekleidet, humpelte die schlecht gelaunte alte Dame am Arm von Sonja Meierhoff aus dem Bad. Verblüfft bemerkte ich, dass ich sie plötzlich mit ganz anderen Augen betrachtete.
    Als ich das Erinnerungsalbum zuklappte, fragte ich mich, ob sich Sonja schon mal die Zeit genommen hatte, einen Blick hineinzuwerfen. Oder Janine Hinze, die sich bei der Dienstbesprechung anscheinend über genau diese Frau Küppers aufgeregt hatte.
    »Erst die Stützstrümpfe«, kommandierte Karin Küppers starrsinnig.
    »Erst die Medikamente«, korrigierte die Pflegerin und trat an den antiken Sekretär. Ein kleiner Karton schien randvoll mit Tütchen und Schachteln. Die Pflegerin zog eine Art dicken Kugelschreiber und ein verschweißtes Plastikpäckchen heraus, aus dem sie so etwas wie eine Patrone fummelte. Das Medikament, begriff ich. Aber welches?
    In Sekundenschnelle hatte sie eine Stelle am schlaffen Oberschenkel der Seniorin mit einem Wattebausch desinfiziert, das Injektionsgerät wie einen Dolch umgriffen und geübt in die Muskulatur gerammt.
    Ich hob beeindruckt die Brauen und überlegte, ob so ein Injektionsgerät womöglich auch als Waffe taugte.
    Obwohl die Pflegerin die Injektion weder angekündigt hatte noch besonders behutsam vorgegangen war, zuckte Frau Küppers mit keiner Wimper. Die alte Frau nahm die Medikamente so selbstverständlich hin wie ein Kind ein Bonbon. Ich fragte mich, ob sie im Gegensatz zu mir wusste, was die Pflegerin ihr gerade gespritzt hatte. Oder ging sie einfach davon aus, dass schon alles seine Richtigkeit hatte? Ich war mir ziemlich sicher, dass sie weniger gelassen bliebe, wenn sie über die erhöhten Todesfallzahlen in Kenntnis gesetzt würde. Wie einfach wäre es für eine Krankenpflegerin, die Medikamente zu vertauschen.
    Sonja war inzwischen vor der Patientin in die Knie gegangen, um ihr in die geforderten Stützstrümpfe zu helfen. Der starke, fleischfarbene Stoff leistete hartnäckig Widerstand, die Pflegerin keuchte und die Patientin beschwerte sich.
    Ich nutzte die Gelegenheit, um einen interessierten Blick in den Medikamentenkarton auf dem Sekretär zu werfen. Tatsächlich war er gefüllt mit bunten Tablettenschachteln, steril verpackten Einmalspritzen, Pflastern und Kompressen. Ich entdeckte ein weiteres originalverpacktes Injektionsgerät, das wie ein kurzer, dicker Stift aussah. Kurzerhand zog ich es zwischen den Schachteln hervor.
    Insulinpen, stand auf der Verpackung.
    Prüfend betrachtete ich die beiliegende Injektionsnadel. Sie war kaum einen Zentimeter lang und sehr fein. Nicht als Waffe geeignet, das Ding würde mit Sicherheit abbrechen.
    Schade eigentlich.
    Ich steckte das Gerät zurück in den überfüllten Karton, es rutschte wieder heraus und landete auf der polierten Holzoberfläche des antiken Schreibschränkchens – direkt neben einem altmodischen, schwarzen Federhalter aus verziertem Metall.
    »Ups. Entschuldigung«, sagte ich laut und klaubte umständlich die raschelnde Plastikverpackung des Insulinpens auf. Dabei verschwand der Füller spontan im Ärmel meiner Jacke.
    Perfekt. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht zu grinsen. Selbst wenn der alten Frau das Fehlen des Federhalters auffiel, war ja bekannt, dass sie gern etwas verschluderte und zuerst immer wieder gern die Pflegerinnen beschuldigte, statt zu suchen.
    Zufrieden verfolgte ich, wie Sonja Meierhoff die Patientin beim Anziehen unterstützte, während das metallene Schreibgerät kühl und schwer in meinen Fingern lag.
    Im Gegensatz zu Janine Hinze half die Rothaarige der Giftspritze zwar wortkarg, aber bemerkenswert geduldig in eine graue Hose und die weiße Bluse.
    Ich konnte mir vorstellen, wie Hedi die Sachen am vorigen Abend liebevoll auf einem Stuhl neben dem Bett zurechtgelegt hatte. Es lag auf der Hand, warum die Patienten an Hedi hingen wie Zecken am Pudel. Nicht nur, weil Hedi sich die Zeit nahm, einen

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