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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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handeln.
    »Du bist seit einem halben Jahr verschwunden, Liana!«, explodierte Claudius, dessen Stimme definitiv nicht an einen Streik dachte. »Weißt du eigentlich, was Mutter wegen dir durchmacht?«
    Der Boden unter mir schaukelte, die Wände bröckelten, draußen rumpelten ganze Mauerklötze auf das Pflaster des Gehwegs. Mein Leben brach auseinander.
    »Du bringst unsere Mutter um!« In Claudius’ Augen funkelte die bekannte Verachtung, die mich rasend machte. »Ist dir das scheißegal, oder was?«
    Erst als ich mit den Kniekehlen gegen den Couchtisch stieß, merkte ich, dass ich immer weiter vor ihm zurückgewichen war. Ich blieb stehen.
    »Ganz genau!«, spuckte ich aus.
    »Du bist so was von armselig«, knurrte Claudius. »Hätte uns nicht das Jugendamt den Tipp gegeben, hätten wir dich hier in zehn Jahren noch nicht gefunden. Privatdetektivin, das ist wohl ein schlechter Scherz?«
    »Kein Scherz, Bruderherz«, krächzte ich heiser, doch die aufflackernde Wut verlieh meiner Stimme wieder ein wenig Kraft. »Das ist mein Job.« Meiner! »Und ich wüsste nicht, wie ihr da was dran ändern wollt.«
    »Wie bescheuert bist du eigentlich? Du hattest den Studienplatz schon sicher. Aber du schmeißt einfach alles hin und verschwindest! Ohne ein Wort!«, wurde Claudius wieder laut. Ein grollender Unterton zitterte in seiner Stimme wie ein entferntes Gewitter. Als würde mein Vater durch Claudius’ Mund sprechen wie ein Gespenst durch ein Medium.
    Gruselig.
    Eine Sekunde lang dachte ich, dass es tatsächlich so war. Unser Vater hatte Claudius zu dem geformt, was ich sah: zu einer jüngeren Kopie seiner selbst, die einfach die so oft gehörten Worte wiederholte, anstatt eigene zu finden.
    Was die Sache nicht weniger gruselig machte.
    Ich fühlte Mitleid mit meinem Bruder. Interessant, dass ich dazu fähig war.
    »Und dann diese abgewrackte Bude hier!«, regte Claudius sich weiter auf. »Das geht gar nicht, und das weißt du genau. Komm nach Hause. Vater wird sich schon wieder beruhigen.«
    Claudius hatte gar nichts begriffen. Er hatte auch nicht vor, irgendwann mal mit Nachdenken anzufangen.
    »Er hat sich noch nie beruhigt.«
    »So ein Quatsch! Er wird dich schon nicht umbringen!« Claudius packte meinen Oberarm.
    Reflexartig griff ich seine Finger, riss seinen überlangen Arm in die Höhe, tauchte darunter durch und verdrehte ihm mit einem Ruck die Schulter.
    »Aua! Lass die Karatescheiße sein!«
    »Das war Judo«, korrigierte ich sachlich und stellte fest, dass meine Stimme wieder mitspielte.
    »Das war Körperverletzung!«, schimpfte Claudius. »Soll ich etwa die Polizei rufen?«
    Ah, jetzt sprach der Nachwuchsstaatsanwalt. Ob Claudius die multiplen Persönlichkeiten, die es sich in seinem Körper bequem gemacht hatten, selbst schon bemerkt hatte?
    »Es reicht, wenn du deine Finger von mir nimmst!«, schrie ich wütend. »Raus hier!«
    Mein fast hysterisches Keifen ließ Claudius rückwärts stolpern.
    »Raus!«
    Ich nutzte sein Erstaunen, um ihn zur noch offen stehenden Tür zu schubsen.
    »Hau ab!« Mein letzter Stoß vor die Brust hätte ihn um ein Haar rückwärts die Treppe hinunterfallen lassen. »Ich komme in diesem Leben nicht mehr zurück! Er soll sich damit abfinden. Sag ihm das!«
    Ich donnerte die Wohnungstür Zentimeter vor Claudius’ verwundertem Gesicht zu. Mit aller Kraft presste ich meinen Rücken gegen die Tür, als könnte ich meinen Bruder so davon abhalten, noch einmal in mein Leben zu poltern.
    Minutenlang lauschte ich, versuchte seine Schritte auf der Treppe zu hören. Doch das Rumpeln, mit dem meine Welt rund um mich herum in sich zusammenfiel, übertönte noch immer alles.
    Ich musste hier weg. Das war der erste klare Gedanke, der in dem Chaos auftauchte.
    Mein Vater hatte mich gefunden. Er würde mich zurückholen. Wenn es sein müsste, würde er selbst kommen und mich an den Haaren nach Hause schleifen.
    Doch es gab einen Haken an der Fluchtidee: Ich wollte nicht weg.
    Hier in der kleinen Dachwohnung über einer schmuddeligen Kneipe in Bochum-Stahlhausen hatte ich endlich ein eigenes Leben. Freunde. Einen Job. Und so was wie eine Beziehung mit Danner.
    Na ja, ganz so rosarot war mein Leben natürlich nicht. Eigentlich schlitterte ich orientierungslos von Fall zu Fall, ohne zu wissen, was genau ich tat. Und der Gedanke, dass meine Affäre mit dem deutlich älteren Schnüffler von Dauer sein könnte, war ein erotisches Produkt meiner schlecht kontrollierbaren Fantasie.
    Also doch meinen

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