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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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Kombination.
    Unfreundlich war nicht die richtige Beschreibung von Sonjas Miene. Freudlos auch nicht. Ihre gezupften und nachgemalten Augenbrauen hielt sie über der Nasenwurzel zusammengezogen, als hätte sie Migräne. Ihre zusammengepressten Lippen waren rot, passend zum Nagellack, die Sommersprossen weggeschminkt. Sie bemühte sich um eine gepflegte Erscheinung. Was im krassen Gegensatz zu ihrem Gesichtsausdruck stand. Der war offen feindselig.
    Ich glaubte, Frau Küppers bei meiner ersten Tour mit Hedi Sundermann schon mal begegnet zu sein.
    Hinter den fingerdicken Gläsern ihrer Brille blinzelte uns die Patientin mit unnatürlich vergrößerten, giftgrünen Augen an. Ihre Zahnprothese hatte sie noch nicht eingesetzt, sodass ihre Zunge beim Sprechen durch die Lücke ihrer fehlenden Schneidezähne nach vorn stieß wie die einer Schlange. Ein knubbeliges, behaartes Muttermal unter dem rechten Augen vervollständigte den geisterbahngeeigneten Gesamteindruck. Sogar der gruftartige Charme ihrer Wohnung passte hervorragend zu ihrem Typ.
    »Nutze!«, zischelte die Alte vor sich hin, als sie an mir vorbeitrippelte. Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, dass sie mit Zähnen wahrscheinlich »Nutte« gesagt hätte.
    Im Wohnzimmer fischte Sonja die Prothese aus einem Wasserglas und hielt sie Frau Küppers hin. Murrend schob die das Gebiss in den Mund und bleckte gleich darauf eine Reihe großer, falscher Zähne.
    »Frau Sundermann und ich wollten mit dem Album weitermachen. Ich hatte extra einen Tee aufgesetzt, aber dafür haben Sie ja wahrscheinlich keine Zeit«, versetzte Frau Küppers bissig.
    Selbst wenn sie Zeit gehabt hätte, wäre Sonja Meierhoff sicher nicht länger als nötig bei dieser alten Giftspritze geblieben.
    »Entschuldigen Sie, dass meine Kinder um eins aus der Schule kommen«, erklärte die rothaarige Pflegerin schnippisch. »Waschen und Anziehen steht auf dem Plan. Und Ihre Medikamente gebe ich Ihnen. Das ist wichtiger als das Album und der Tee.«
    »Hier …« Entweder hörte die Patientin schwer oder sie ignorierte Sonja Meierhoffs Worte absichtlich. »Sehen Sie mal, wie weit wir schon sind.« Sie nahm ein dickes, grünes Fotoalbum von einem Sekretär aus blank poliertem Holz und legte es auf den Couchtisch. Es roch nach neuem Plastik.
    Ich tippte auf absichtliche Ignoranz.
    »Meine Kollegin sieht sich Ihr Album an, solange wir im Bad sind.« Kurzerhand setzte Sonja Meierhoff mich vor das Fotoalbum auf das blau-grau-grün gemusterte Sofa. »Diese Erinnerungsalben sind das neueste Steckenpferd von Agi und Hedi«, erklärte sie mir knapp. »Die haben da letztes Jahr so eine Fortbildung gemacht.«
    Sie dirigierte die jetzt einigermaßen folgsame Frau Küppers ins Badezimmer.
    »Nein, nicht die Seife, ich nehme doch immer die mit Lavendelduft«, hörte ich die Alte gleich darauf wettern. »Und schneiden Sie sich mal die Fingernägel – Sie sind doch kein Tiger, Sie müssen mit den Krallen nicht Ihr Mittagessen erlegen.«
    Grinsend schlug ich das Fotoalbum auf.
    Erinnerungsalbum von Karin Küppers, las ich auf der ersten Seite. Darunter ein Foto, das die Giftspritze in jüngeren Jahren zeigte. 1976, um genau zu sein, auch das stand in kantiger Schreibschrift unter dem Bild. Damals hatte sie mehr Zähne, bereits sehr viele Falten und den verblichenen Farben der alten Aufnahme zum Trotz leuchteten ihre Augen grün.
    Dazu einige persönliche Daten: Geboren 1929 in Berlin.
    Die Handschrift wirkte altmodisch, die nach rechts geneigten Buchstaben waren verschnörkelt, aber flüssig, sorgfältig gemalt und gut lesbar. So ganz wollte diese Schrift nicht zu einer zittrigen Neunzigjährigen passen, fand ich. Wahrscheinlich hatte Hedi das Schreiben übernommen.
    Auf der nächsten Seite folgte ein schwarz-weißes Kinderfoto, das drei Mädchen mit dicken Zöpfen zeigte. Karin mit ihren Schwestern Greta und Marlene. Daneben gab ein steckbriefartiger Lebenslauf Übersicht über die Biografie der Giftspritze:
    Kriegskind in Berlin
    Bombenangriffe im Keller überlebt
    1943–47 als Aushilfskrankenschwester in der Charité
    47–50 Ausbildung zur Krankenschwester
    Es folgten der Umzug nach Wanne-Eickel, eine Hochzeit mit einem Pastor, ehrenamtliche Seelsorge und Betreuung ungewollt schwangerer junger Frauen im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit.
    Verblüfft blätterte ich weiter. Die Giftspritze war eine kirchlich-ehrenamtliche Wohltäterin. Das sah man ihr wirklich nicht an.
    Es folgten Tiefen im Lebenslauf – Tod der

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