77 Tage
vorstellen. Obwohl es Fakt ist. Unumstößlich.
Eine knappe Stunde habe ich vor dem Spiegel gestanden. Überlegt, ob man es schon sieht. Man sieht natürlich nichts. Mein Bauch ist flach. Wie darin wohl ein vollständiger Mensch zustande kommen soll?
Ein vollständiger Mensch. Ein echtes Kind. Dem ich beibringen soll, aufs Töpfchen zu gehen. Und die Finger nicht auf heiße Herdplatten zu halten. Sich keine Legos in die Nase zu stecken. Und Katzen nicht am Schwanz hinter sich herzuziehen. Messer und Gabel zu benutzen. Sein Zimmer aufzuräumen. Obst statt Schokolade zu essen. Nicht zu rauchen. Nicht den Religionsunterricht zu schwänzen. Nicht besoffen Auto zu fahren.
Das alles kann ich nicht mal selbst.
Dabei sieht man gar nichts.
Mario hat sich viel mehr gefreut. Mehr als ich. Er ist begeistert. Er hat bereits den Umbau des Gästezimmers zum Kinderzimmer geplant. Inklusive Wanddurchbruch. Für Babyfon-Leitungen.
Und wenn Mario einen Bauplan im Kopf hat, dann wird dieser auch umgesetzt. Und zwar ›ratzfatz‹. Das ist Bauarbeiterslang. Bedeutet: in den nächsten dreieinhalb Tagen.
Bis zum Wochenende wird das Kinderzimmer also bezugsfertig sein. Samt Sonne-Mond-und-Sterne-Tapeten. Und Minikettensäge für Holzfäller ab drei Jahren. Und Hightech-Mutti-Rufsystem.
Dabei sieht man noch gar nichts.
Meine Mutter ist genauso begeistert. Der stolze Papa konnte es sich natürlich nicht verkneifen, die nähere und weitere Verwandtschaft in Kenntnis zu setzen. Nach Fertigstellung der Kinderzimmerplanung. Also noch immer in der ersten Stunde nach Entstehen des Ultraschallbildes. Mittlerweile wird die Nachricht Tante Minna erreicht haben.
Wäre morgen noch früh genug gewesen. Finde ich.
Na ja. Nicht zu ändern.
Eine halbe Stunde nach Marios Anruf stand meine Mutter vor der Tür. Sie verkündete, dass sie uns den Kinderwagen und den Maxi-Cosi schenken wird. Bis dahin wusste ich nicht einmal, was ein Maxi-Cosi ist. Ich hörte auf, meinen Bauch anzustarren.
Dank meiner Mutter bin ich mittlerweile fortgebildet. Sie hatte eine gut sortierte Auswahl an Prospekten unter dem Arm. Babyzubehör. Als hätte sie seit Jahren auf diesen Tag gewartet.
Mittlerweile bin ich über die Schwierigkeiten beim Kauf eines Kinderwagens in Kenntnis gesetzt. Die Aktion ist ungefähr mit dem Kauf eines Autos vergleichbar. Und auch preislich kann das Ding in diese Kategorie eingeordnet werden. Den ganzen Abend haben wir Kataloge gewälzt. Preis-Leistungs-Vergleich bei dreiundvierzig Kinderwagenmodellen.
Dabei sieht man doch noch gar nichts.
Harry und Waltraud hingegen fühlen sich benachteiligt. Weil meine Mutter uns den Kinderwagen schenken will. Und den Maxi-Cosi. Deshalb will Waltraud eine Kollektion an Umstandskleidern und Still-BHs sponsern.
Die machen mich echt fertig!
Sina habe ich noch nichts erzählt. Sie wird stinksauer sein. Sie erwartet, mehr über mein Sexualleben zu wissen als mein Ehemann. Ehrensache. Als beste Freundin.
Aber ehrlich gesagt, hat mir die Familie erst mal gereicht. Irre, wie der Wahnsinn ausbricht.
Außerdem ist Sina zurzeit sowieso schlecht zu erreichen. Sie schwebt weit über den Wolken. Mit Dieter-Darling.
Sie wird nicht begeistert sein, von meiner Schwangerschaft zu hören. Im Gegensatz zum Rest der Welt. Weil ich ja dem Mutti-Klub beitreten werde.
Dadurch bekommt man eine Art Gehirnwäsche. Meint Sina. Durch die Hormone, die man zu einem Kind dazubekommt. Die machen jede Frau zur Glucke. Angeblich. Sogar Startennisspielerinnen haben die Hormone schon in Baumwollwindel-Wäscherinnen verwandelt. Und Supermodels tragen plötzlich Jogginghosen.
Ich bezweifle allerdings, dass das bei mir passiert. Schließlich bin ich die Frau, die ein Knäckebrot getoastet hat. Meine Hormone müssen defekt sein.
Ich muss Sina nicht nur beichten, dass ich schwanger bin. Dazu kommt, dass ich in Kürze im Besitz eines Maxi-Cosis sein werde. Und eines 2-in-1-Kinderwagens. Der mit drei Handgriffen zum Buggy umgebaut werden kann. Und einer Menge praktischer Still-BHs. Zum Vorneöffnen.
Hilfe! Ich bin auf dem direkten Weg. Zur Jogginghosenträgerin.
Dabei sieht man doch noch gar nichts.
20.
»Wie alt war sie?«
Elsbeth van Pels blätterte in ihren Unterlagen.
»Sechsundachtzig«, beantwortete Anna Willms die Frage und reichte dem Notarzt die Krankenakte, in die die Pflegedienstmitarbeiter täglich Medikamente, Auffälligkeiten, Pflegemaßnahmen und Daten des Patienten eintrugen.
Inzwischen war die Gruft voller
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