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77 Tage

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Titel: 77 Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucie Flebbe
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Kopf erhoben.
    So würde ich selbst mit neunzig auch gern aussehen, ging es mir duch den Kopf. Vorausgesetzt, ich erreichte dieses fortgeschrittene Alter wider Erwarten.
    Mich schien die Schwägerin gar nicht wahrgenommen zu haben. Langsam trat sie an die Leiche im Sessel heran. Eine Sekunde lang kam es mir vor, als huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Nicht unbedingt ein fröhliches, was ja auch sehr seltsam gewesen wäre, sondern eher ein grimmiges. Besonders mitgenommen vom Tod der Küppers wirkte sie nicht.
    Kurz sah ich mich nach Elsbeth van Pels um. Die lief im Treppenhaus hin und her. Vielleicht, um Frau Schramm in ihrer Trauer nicht zu stören. Oder um meinen Fragen zu entgehen?
    »Dass ich diesen Tag noch erleben darf«, zischte die elegante Oma der Leiche zu und lenkte damit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich.
    Hatte ich mich verhört?
    »Wie bitte?«, erkundigte ich mich interessiert.
    Die Frau schrak zusammen, als ich neben sie trat.
    »Liliana Ziegler, Pflegedienst Sonnenschein. Ich habe Ihre Schwägerin gefunden.«
    »Oh«, murmelte die Frau, eher ertappt als betroffen. »Das muss für Sie jetzt sehr unpassend klingen.«
    »Unerwartet trifft es eher«, korrigierte ich. Denn wenn man bedachte, was für eine Giftspritze die Küppers gewesen war, konnte man die Worte ihrer Schwägerin durchaus als passend bezeichnen. »Unüblich könnte man auch sagen.«
    »Unüblich.« Ich hatte Ingelore Schramm zum Schmunzeln gebracht. Sie sah sich kurz um, doch Elsbeth van Pels hektische Schritte hallten noch immer durchs Treppenhaus.
    »Genauso merkwürdig ist, dass ausgerechnet ich als nächste Verwandte übrig geblieben bin. Nun muss ich Karins Nachlass regeln. Ironie des Schicksals.«
    »Sie standen sich nicht besonders nahe?«, forschte ich nach.
    Wieder ein grimmiges Grinsen. »So kann man es ausdrücken.«
    »Sie konnten sich nicht leiden?«
    Die rosa nachgezogenen Lippen der Frau zuckten. Sie hätte jetzt vielleicht wirklich gelacht, hätte sie nicht immer noch vor der Leiche ihrer Schwägerin gestanden: »Diese Frage würde ich unerwartet nennen, Frau Ziegler.«
    »Oder unüblich?«
    Ingelore Schramm nickte versonnen. »Sie – also Karin – ist als Jungfrau in die Ehe mit meinem Bruder gegangen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, Opernsängerin zu werden. Die Familie hat mich als – hm … sagen wir mal, schwarzes Schaf abgestempelt und Karin hat mir Gottes Rache prophezeit.« Ihre Ironie verriet ihre Wut.
    Schwarzes Schaf war wohl eine eher milde Umschreibung dessen, was ihr damals nachgesagt worden war, vermutete ich. ›Schlampe‹ traf den Wortlaut wahrscheinlich besser. Oder ›Nutte‹?
    »Und? Hat Gott sich gerächt?«, hakte ich nach.
    Die alte Frau betrachtete nachdenklich den Leichnam im Sessel. »Das hat Karin für ihn erledigt.«
    Sie schluckte und schwieg.
    »Man hat Sie beschimpft? Als Hure bezeichnet?«, half ich ihr weiter.
    Der scharfe Blick unter ihren faltigen Lidern musterte mich. »Besser noch«, verriet sie mir dann. »Ich wurde schwanger.«
    Oh.
    »Mein damaliger Freund bekam ein Engagement in Italien und war weg«, erzählte sie weiter. »Sie können sich das heute nicht mehr vorstellen, doch damals war das ein Skandal. Meine Familie war entsetzt. Karin lamentierte über den unehelichen Bastard, mein Bruder predigte von der Kanzel über die Schande, bis …« Sie biss sich auf die Unterlippe.
    »Bis?«
    Ihre Augen verengten sich. »Bis ich in einen Abbruch einwilligte.«
    Oje. Kurz trafen sich unsere Blicke. Ein harter Zug presste ihren Mund zu einem schmalen roas Strich zusammen, sie nahm die Nase noch ein Stück höher und sah wieder auf die Leiche hinunter. Sie hasste die Küppers bis heute dafür.
    »Was soll’s? Es ist lange her und Karin ist tot. Warum soll ich nicht darüber sprechen? Sie hatte schließlich auch keine Skrupel, meinen Ruf schon zu Lebzeiten zu zerstören.«
    Weil sie offenbar eine Antwort von mir erwartete, nickte ich zustimmend.
    »Karin hat lange Zeit illegale Abtreibungen durchgeführt. Für Unverheiratete. Und im Auftrag von Eltern, die ihren minderjährigen Töchtern die ›Schande‹ ersparen wollten. Karin hatte nach dem Krieg als Schwester auf der gynäkologischen Station gearbeitet. Bei mir hat sie es mit Stricknadeln gemacht. Manchmal glaube ich, meine Familie war sich darin einig, dass eine nochmalige Schwangerschaft verhindert werden müsste. Karin hat den Beschluss ausgeführt.« Der Zorn ließ die helle Stimme der alten Frau beben.

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