77 Tage
Menschen. Nach dem Notruf hatte Hedi Anna Willms und Elsbeth van Pels informiert, die die medizinischen und kaufmännischen Pflegeunterlagen mitbrachten. Den Notarzt hatten zwei Sanitäter in neonfarbenen Westen begleitet. Der Hausverwalter lief jammernd durch die Wohnung und begutachtete den Wasserschaden.
Nachdem ich meinen ersten Schreck überwunden hatte, beobachtete ich interessiert das Geschehen in der Gruft.
»Zustand nach leichtem Apoplex, Diabetes mellitus, beginnende Demenz, ja, ja«, murmelte der Arzt beim Blättern in der Pflegeakte. Er blickte kurz auf die bläulichen Einstichstellen an den Oberschenkeln der Verstorbenen. »Noch andere Injektionsstellen?«
Anna Willms Blick wanderte zu Hedi. Die klopfte sich mit einer Hand auf den Hintern. »Sie klagte, die Beine wären schon ganz zerstochen.«
Der Arzt verzichtete mit einem Nicken darauf, auch den Hintern der Toten zu inspizieren. Er wirkte müde, als hätte er schon eine Nachtschicht hinter sich. »Bekam sie außer Heparin und Insulin weitere Medikamente?«
»Bei Bedarf Paracetamol gegen ihre Kopfschmerzen«, Anna Willms schlug ihm die Seite auf, auf der die Medikamentengaben gelistet waren.
»Ah. Ja, ja«, murmelte er wieder. Er war fast so groß wie Hedi, hager, mit Nickelbrille und durcheinandergeratenem, grauem Haar. Trotz seiner offensichtlichen eigenen Erschöpfung hatte er Puls, Atmung und Augenreflexe von Frau Küppers mehrmals kontrolliert sowie Kopf, Arme und Beine sorgfältig auf Verletzungen untersucht. Auch wenn er den Po der Giftspritze nicht sehen wollte, konnte man ihn sicher nicht nachlässig nennen.
»Familienverhältnisse?«, erkundigte er sich, während er der Toten noch einmal in die verblassten Augen leuchtete.
Seit wann benötigte man denn die Familienverhältnisse für eine ärztliche Diagnose?
»Verwitwet«, las Elsbeth van Pels nach. »Keine Kinder. Als Kontakt haben wir eine Schwägerin in den Akten. Sie lebt in Wattenscheid. Wir haben sie informiert, sie wollte sich ein Taxi nehmen.«
»Ihre Rechnungen zahlt das Amt?«
Ach so! Der Arzt prüfte, ob irgendjemand Vorteile durch den Tod der Frau hatte, begriff ich.
Elsbeth van Pels schüttelte den Kopf: »Sie hat eine ganz gute Witwenrente bezogen, ihr verstorbener Mann war evangelischer Pastor in der Christuskirche hier in Bochum. Sie hat Teilzeit und ehrenamtlich ebenfalls lange für die Kirche gearbeitet. Dazu kam Pflegestufe II. Alles in allem kam sie gut zurecht.«
Was sich in Zukunft vielleicht geändert hätte, wenn sie wegen ihrer Vergesslichkeit in ein Heim hätte umziehen müssen. Andererseits hätte sie das Badewasser womöglich gar nicht vergessen, wäre sie nicht nach dem Aufdrehen des Hahns unpassenderweise verstorben.
Der müde Arzt packte die Taschenlampe und das Stethoskop in seinen Koffer: »Sie ist seit ein bis zwei Stunden tot. Herzversagen. Es muss schnell gegangen sein. Auffälligkeiten gibt es nicht. Sie hat nicht mal um Hilfe gerufen, obwohl das Telefon in Reichweite war. Ich stelle den Totenschein aus.«
Elsbeth van Pels warf mir einen kurzen Blick zu.
Ich kratzte mich nachdenklich am Kinn. Ob der Mediziner genauso schnell vom natürlichen Tod der Patientin überzeugt gewesen wäre, wenn das Herzversagen den Beginn eines Streites zwischen fünf Kindern um ein Millionenerbe bedeuten würde? Oder wenn er wüsste, dass in diesem Pflegedienst im Jahr zwei Kunden mehr starben als bei vergleichbaren Unternehmen?
»Wer hätte für Frau Küppers denn die Kosten für einen Heimplatz übernommen?«, erkundigte ich mich leise bei Hedi.
Sie hob überrascht die Brauen: »Das Amt hätte den Betrag aufgestockt. Ihre Rente hätte bestimmt nicht gereicht. Unterhaltspflichtig bei Pflegekosten sind nur Verwandte ersten Grades, also Kinder oder Eltern. Wenn es wie bei Frau Küppers keine direkten Verwandten gibt, springt das Sozialamt ein. Wieso?«
Ich winkte ab: »Ist doch wichtig zu wissen, oder?«
Es gab also weder ein Erbe noch kam jemand um Unterhaltszahlungen herum. Und dem Pflegedienst ging eine schlecht gelaunte, aber regelmäßig zahlende Kundin verloren.
Eigentlich verdiente jetzt nur noch einer an der Verstorbenen.
»Sie wissen ja, dass wir im RTW keine Leichen befördern dürfen?«, sagte der müde Notarzt zu Anna Willms und Elsbeth van Pels, während er seinen Notfallkoffer zuklappte.
Ich horchte auf.
»Natürlich«, nickte Elsbeth van Pels geschäftig. »Ich kümmere mich um den Bestatter.«
Genau.
»Ich brauche eine Liste der
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