8 Tage im Juni
wurde.
Jenny Schwarzer, Burgmauerweg.
Lovis holte den Kölner Stadtplan aus Gustavs Kartenkiste und breitete ihn auf dem Küchentisch aus. Burgmauerweg, das war irgendwo auf der anderen Rheinseite. In Mülheim, Terra incognita für ihn. Haltestelle Wiener Platz. Die zumindest kannte er. Da musste er aussteigen, wenn er Kai aus seiner Klasse besuchte. Der wohnte in einer Neubauwohnung mit Dachgarten direkt am Rhein. Die Häuser am Rhein waren überhaupt allesamt sehr schick, aber der Wiener Platz war keine feine Gegend. Eher ein Treffpunkt von Bettlern, Prolls und Alkis. Drogengeschäfte, viel Zoff und Randale. Abends kein Ort für einen wie ihn. Den Wiener Platz hatte er im Dunkeln immer gemieden, aber am Friesenplatz war er davon ausgegangen, dass ihm nichts passieren würde. Falsch gedacht, so zugesoffene Schlägertypen konnten überall auftauchen. Burgmauerweg. Er warf einen genaueren Blick auf den Stadtplan. Zehn, fünfzehn Minuten waren das vom Wiener Platz aus, wenn man zu Fuà ging. Sollte er hinfahren?
Auf alle Fälle brauchte Jenny ihren Schülerausweis wieder. Wenn sie in der Bahn kontrolliert wurde und ihn nicht dabei hatte, musste sie Strafe zahlen. Vielleicht hatte sie noch gar nicht bemerkt, dass sie ihn verloren hatte? Aber bevor er sich auf den Weg machte, sollte er da nicht versuchen, Kontakt zu den drei unbekannten Facebook-Jennys zu kriegen? Und wenn seine Jenny gar nicht bei Facebook war? Er könnte den Ausweis auch einfach in einen Umschlag stecken und ihn ihr zuschicken. Mit einem Brief dabei, in dem er sich bei ihr bedankte. Nein. Das war der falsche Weg. Lovis wollte Jenny wiedersehen. Am besten, er ging bei ihr vorbei und bedankte sich persönlich. Face to face. Ein Wiedersehen mit den grünen Augen. Aber vorher wollte er anrufen, damit er sicher sein konnte, dass sie auch zu Hause war.
Im Telefonbuch fand er zwei Schwarzer im Burgmauerweg 17. Eine Jasmin Schwarzer und einen Kurt Schwarzer. Keine Jenny, das wäre auch zu einfach gewesen. Er stand schlieÃlich auch nicht im Telefonbuch, sondern nur Gustav. Kurt oder Jasmin? Jasmin, entschied er, holte sich das Telefon aus dem Flur und wählte die Nummer.
»Schwarzer«, meldete sich eine fremde Frauenstimme.
»Ha-ha-hallo. K-k-kann i-ich v-v-vielleicht â¦Â« Lovis drückte den Off-Knopf. Wie hatte er vergessen können, dass er wieder stotterte?
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Jenny schüttete die Reste von Joe-Joes Essen in den Müll. Ihrem Bruder hatte es nicht geschmeckt, Jasmin hatte nur spatzenhaft daran genippt und ihr dabei Vorwürfe wegen der teuren Kokosmilch und diesem merkwürdigen Curry gemacht. »Ich fandâs gut«, hatte Jenny trotzig geantwortet. »Der Blumenkohl war superknackig und verdammt scharf.« Jasmin dann: »Viel zu scharf! Wieso hast du bloà das Gulasch nicht gekauft?« Geh doch selbst einkaufen! Koch du doch unser Essen! Kümmere dich mal um uns und nicht nur um verletzte Karnickel, hätte Jenny ihr am liebsten ins Gesicht geschrien, es dann aber gelassen.
Wieder klumpte sich Angst in ihrem Bauch zusammen. Merheim, dachte sie bang. Wie lang war Jasmin, sah man von den Zigarettenkäufen in Gürkans Kiosk im Hof ab, nicht mehr vor der Tür gewesen? Eine Woche oder zwei? Jenny musste sich so etwas unbedingt aufschreiben! Was, wenn Jasmin wieder in die Fänge der finsteren Angst geriet? Was, wenn sie wieder ins Reich der Schatten abdriftete? Wo sie kein Tageslicht ertrug und durch die Wohnung schlich, als wäre sie nicht sie selbst. Wo sie viel weinte und ihr Blick sich in einem fernen Land verlor, in das Jenny ihr nicht folgen konnte. Auch nicht folgen wollte, denn es war ein Höllenreich voller dunkler gieriger Monster, die Jasmin alle Energie aussaugten. Manchmal war sie dann wie ein ganz kleines Kind, das mit Marmelade wirre Zeichen auf den Küchentisch malte.
Merheim. Bis auf eine Ausnahme war es ihr und Oma Hilde immer gelungen, Jasmin aus dem Schattenreich zurückzuholen. Das eine Mal lag schon weit zurück. Da hatte Joe-Joe noch Windeln getragen und Jenny noch nicht kochen können. Sieben oder acht war sie gewesen. Sie erinnerte sich genau daran, und wenn sich bei Jasmin eine neue Katastrophe andeutete, erinnerte sich Jenny so gut, dass die Erinnerung wehtat. Tagelang hatte Jasmin Joe-Joes Windeln nicht gewechselt und ihnen nichts zu essen gemacht. Schwindelig vor Hunger war Jenny zur Fedotowa nach unten gestiegen. Sie
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