8 Tage im Juni
noch, 1,19 â¬. Sie rechnete zusammen, ob das Geld dafür reichte, wenn sie gleich noch bei Fressnapf das Hundefutter kaufte. Ein Euro zu wenig, den würde sie beisteuern. Den Rest von Jasmins Geldgeschenk würde sie in ihre geheime Spardose stecken. Fast fünfzig Euro hatte sie schon zusammen. Das war ihr Taschengeld für die Klassenfahrt. Damit sie sich in Rom ein bisschen was kaufen konnte.
Die Aussicht, etwas Neues zu kochen, munterte sie auf. Es war natürlich ein Wagnis, aber zur Not könnte sie Arîn aus dem Nebenhaus anrufen. Die war fast schon eine richtige Köchin, arbeitete in einem ganz schicken Laden und musste nur noch ihre Abschlussprüfung machen. Auch Jenny hatte in der Schule als Berufswunsch Koch angekreuzt. Als Koch konnte man richtig Karriere machen. Koch war wie FuÃballer. Da schaffte man es von ganz unten nach ganz oben. Manchmal. Wie Tim Raue. Ãber den hatte sie einen Bericht gesehen. Als Kind arm, als Jugendlicher Mitglied in einer StraÃengang und jetzt einer der besten Köche Deutschlands. »Willensstärke und Disziplin braucht man«, predigte er. »Neben einem feinen Näschen und einem guten Geschmack.« Hatte sie alles. Kochen, ihr Sprungbrett in die Welt! Raus aus der Roten Burg, eine Lehrstelle als Köchin bekommen, das war ihr erstes Ziel. Dafür musste sie üben. Wie jetzt mit dem Blumenkohlcurry. Der war roh gewesen, der Blumenkohl in dem Fernsehrezept. Ganz kleine Röschen. Die hatte der Koch in der Pfanne angebraten. Verdammt! Hatten sie noch Ãl? Wenn nicht, würde sie halt Margarine nehmen.
Zu Hause tobte Joe-Joe mit seinem Freund Enzo durch die Bude, Rintintin musste nach drauÃen, Mimusch brauchte Futter. Jasmin leerte im Bad die Waschmaschine.
»Sie schleudert kaum noch. Guck mal, wie nass die Wäsche noch ist«, jammerte sie.
Jenny schloss schnell die Tür zum Bad, schickte Joe-Joe und Enzo mit Rintintin nach drauÃen, setzte sich ihren Walkman auf und machte sich ans Kochen.
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Noch einmal betrachtete Lovis das Foto des Mädchens. Wie war Jennys Ausweis in seiner Brusttasche gelandet? Hatte sie ihn dorthin gesteckt? Quatsch! Keiner lieà freiwillig seinen Schülerausweis zurück, man brauchte ihn doch ständig zum Bahnfahren. Das Schülerticket war nur in Kombination mit dem Schülerausweis gültig. Jenny musste ihn bei der Rettungsaktion verloren haben; er war ihr bestimmt aus der Jacken- oder Hosentasche gerutscht, als sie ihn von den Gleisen hochgezogen hatte. Einer der Sanitäter hatte den Ausweis am Boden liegen sehen und ihm in die Brusttasche gesteckt. So musste es gewesen sein. Obwohl ⦠Lovis gefiel die Vorstellung, dass Jenny ihren Ausweis absichtlich bei ihm zurückgelassen hatte. Weil sie ihn wiedersehen wollte? Hätte sie das nicht einfacher haben können, wenn sie geblieben wäre? Dennoch, der Ausweis hatte etwas zu bedeuten.
In seiner Erinnerung sah Lovis Jenny noch einmal auf die Bahn warten und mit ihrem Handy spielen. Klein und zart, eigentlich komplett unauffällig, wären da nicht diese glänzenden, feuerroten Haare. Irisch, hatte er auf dem Bahnsteig gedacht, in Dublin würde sie überhaupt nicht auffallen. Ob sie auch Sommersprossen hatte wie so viele Iren? Er wusste es nicht. Als sie ihn von den Gleisen zog, hatte er nur dieses geheimnisvolle Grün der Augen gesehen. Grüne Augen, rote Haare, bärenstarke Arme. Woher hatte dieses zarte Mädchen so starke Arme? Auch das wusste er nicht, er wusste eigentlich gar nichts von ihr. Nicht ganz korrekt, korrigierte er sich selbst. Ich weiÃ, dass sie mich gerettet hat und sich unsichtbar machen kann.
In Gedanken ging er zurück zu dem Moment auf den Gleisen. Nachdem sie beide eine Zeit lang heftig atmend nebeneinander auf dem kalten Beton gelegen hatten, flüsterte Jenny: »Ich geh jetzt.« Dann lieà sie seine Hand los. Erst da merkte er, wie lang sie sich noch festgehalten hatten. AneinandergeschweiÃt, auf ewig verbunden, schoss es ihm durch den Kopf. Man war doch auf ewig mit dem verbunden, der einem das Leben gerettet hatte, oder? Er wusste es nicht, stattdessen fiel ihm ein, dass er auf dem Bahnsteig ihren FüÃen nachgesehen hatte. Die steckten in roten Ballerinas mit abgelaufenen Sohlen. Beim linken Schuh war die hintere Naht aufgegangen. Solche unwichtigen Details hatte er registriert, bevor Jenny aus seinem Blickfeld verschwand. Unsichtbar
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