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8 Tage im Juni

8 Tage im Juni

Titel: 8 Tage im Juni Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Glaser
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er Jenny. Sie stand nur ein paar Meter von ihm entfernt. Sie sah ihn nicht, denn sie blickte hinauf auf die Anzeigentafel. Die Linie 18 war in einer Minute angekündigt. An Jennys Seite ein Schäferhund, der brav neben ihr her trottete, als sie sich nah am Bahngleis zum Warten aufstellte.
    Die Angst war mit einem Schlag verschwunden, dafür purzelten Lovis’ Gedanken wild durcheinander. Was sollte er jetzt tun? Ihr auf die Schulter tippen? Ein stotterfreies »Hallo« versuchen? Sie zu einem Kaffee einladen? Aber hatte er überhaupt Geld eingesteckt?
    Während er nach seinem Portemonnaie tastete, fuhr die 18 ein. Jenny nahm den Hund an die kurze Leine und stieg in die Bahn. Und jetzt? Was jetzt? Lovis spürte nicht, wie ihn jemand anrempelte, ein anderer zur Seite schob. In letzter Minute zwängte er sich ebenfalls in die Bahn. Im Gedränge des vollen Waggons war Jenny untergetaucht. Er konnte sie nur in der Ferne, etwa drei Türen weiter erahnen.
    Am Ebertplatz stiegen viele aus. Jetzt erspähte er Jenny. Sie stand ganz in der Nähe des Fahrkartenautomaten und machte keine Anstalten auszusteigen. Er, Lovis, hätte aussteigen sollen, hier war für ihn Endstation, von hier aus ging’s nach Hause. Aber Lovis dachte nicht daran. Reichensbergerplatz, Zoo, Boltenstern-, Slabystraße, dann fuhr die Bahn über den Rhein. Wiener Platz, da musste Jenny aussteigen. Das hatte er auf dem Stadtplan gesehen, als er ihre Straße gesucht hatte. Am Wiener Platz folgte Lovis ihr, lief an langen Betonwänden mit runden Löchern vorbei, die der Haltestelle etwas von einem hässlichen Ufo gaben. Jenny verließ die U-Bahn-Station über einen weiten, zugepflasterten Platz, der hinauf zur Frankfurter Straße führte. Dort bog sie in eine kleine Seitenstraße ein, ging diese bis zum Ende und lief dann über einen Schotterweg, der entlang der Bahnstrecke führte. Lovis blieb mit etwas Abstand hinter ihr. Er wusste nicht, ob es ihm lieber wäre, dass sie ihn entdeckte oder nicht. Jenny jedenfalls drehte sich nicht um. In Gedanken versunken, schubste sie den Hund, der offensichtlich spielen wollte, mehrfach sanft zur Seite. Sie ließ ein trostloses Einkaufszentrum links liegen und steuerte auf einen Wohnblock in rotem Klinker zu, der einsam zwischen den Bahngleisen und ein paar verrotteten Industriehallen lag. Ein trutziger viereckiger Bau, nur durch ein breites Tor zugänglich. Ein altes Gebäude, völlig marode. Überall bröckelte der Putz, einige Fensterscheiben waren zerbrochen und mit Pappkarton zugeklebt. Die Farbe am Eingangstor blätterte ab. Vielleicht war es mal in einem schönen Meerblau gestrichen gewesen. Jetzt hatte es den Farbton eines ausgeleierten, verfärbten T-Shirts.
    Jenny pfiff nach einem rothaarigen Jungen, der auf dem Platz vor dem Wohnblock zwischen ein paar alten Autoreifen herumturnte und bald mürrisch hinter Jenny her schlurfte. Bruder und Schwester, dachte Lovis. Unverkennbar, nicht nur wegen der Haarfarbe. Neben dem Tor lungerten auf billigen weißen Plastikstühlen ein paar Männer herum, deren Alter er schwer schätzen konnte. Alle rauchten und musterten ihn mit abschätzender Neugier. Schnell folgte er Jenny und ihrem kleinen Bruder, die bereits durch das Tor gehuscht waren.
    Vor ihm tat sich ein weiter Innenhof mit Spiel- und Bolzplatz, Büschen und Bäumen und dem üblichen mit Eisenpfählen und Wäscheleinen bestückten Rasen auf. Auf dem Spielplatz bewarfen sich zwei kleine Jungen mit Sand, eine vielleicht Zehnjährige lief auf den Händen den Schwebebalken entlang, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Lovis sah, wie Jenny die Tür des Hauses Ic aufsperrte, ihren Bruder nach drinnen schob, ihm folgte und die Tür hinter sich schloss.
    Die beiden kleinen Jungen hörten auf, sich mit Sand zu bewerfen, und kamen auf Lovis zu. Sie wollten wissen, wie er hieß und wo er hinwollte. Er grinste und zuckte mit den Schultern. Als eine Frau mit einem Mickymaus-T-Shirt nach ihnen rief, die Lovis bisher nicht wahrgenommen hatte, stoben sie ohne nachzuhaken davon. Hier kennt man sich, dachte Lovis. Man weiß, dass ich ein Fremder, ein Eindringling bin. Nachdem die neugierigen Blagen ihn in Ruhe ließen, schlenderte er hinüber zu Jennys Haus. Schwarzer, zweiter Stock, las er auf einer teils mehrfach überklebten Klingelleiste. Aber er zögerte, auf den Klingelknopf zu

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