80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
seine Pistole teuer aus. Sie war schlank, stahlgrau und frisch poliert. Vor allem aber leicht zugänglich, in der obersten rechten Schublade seines Schreibtischs, wo die meisten Leute Sachen aufheben, die sie sofort zur Hand haben möchten – Ersatzkugelschreiber, Büroklammern und vielleicht auch noch ihren Taschenkalender. Aber keine gefährliche Waffe.
Ich hätte mir eine Entschuldigung für ihn ausdenken können, etwa, dass er sich mit dieser Pistole vor Einbrechern schützen wollte – wenn nicht ein Schalldämpfer danebengelegen hätte. Diese Vorrichtung kannte ich zwar nur aus dem Fernsehen, doch etwas anderes konnte dieser lange schmale Aufsatz aus Metall gar nicht sein. Und niemand benutzt einen Schalldämpfer zur Selbstverteidigung. Wenn man sich in seiner Wohnung gegen Einbrecher wehren muss, will man in der Regel so viel Lärm wie möglich machen, um die Nachbarn zu alarmieren, damit sie Hilfe holen können. Nur Jäger brauchen Schalldämpfer, nicht aber Gejagte. Menschen, die etwas zu verbergen haben. So wie Chey.
In meinem Kopf fügte sich nun alles zu einem Bild zusammen.
Die Lügen, die unerklärten langen Abwesenheiten. Seine Verbindung zu Lev. Sein Kleiderschrank mit einem Sammelsurium nicht zusammenpassender Klamotten, Designeranzüge neben College-Sweatshirts, alles ohne erkennbar eigenen Stil. Das viele Geld, die Schmiergelder am Flughafen, der aufwendige Lebensstil, die Geschäftstermine an den ausgefallensten Orten überall in der Stadt. Die verschlossenen Schubladen. Die Papiere auf seinem Schreibtisch in einer Vielzahl von Sprachen, seine handschriftlichen Notizen in einem viel komplizierteren Russisch, als er angeblich beherrschte.
Er war ein Gangster. Ob er sich mit Drogen, Waffen oder noch Schlimmeren befasste, wusste ich natürlich nicht, aber das wollte ich auch gar nicht wissen. Ich hatte genügend Hollywoodfilme gesehen, und nach allem, was ich bei den Jungs vom Schwarzmarkt über das Verschieben heißer Ware mitbekommen hatte, war mir klar, dass ich besser nicht zu viel wusste. Sonst endete man leicht als Wasserleiche in der Newa oder, in meinem Fall, im Hudson.
Ich hätte die Schublade einfach zuschieben und fortgehen sollen. Doch Cheys Pistole schimmerte gefährlich schön und zog mich magisch an. Ich griff in die Lade und strich über den harten silbernen Lauf, ehe die Vernunft mir riet, fortzulaufen, mich in Sicherheit zu bringen und so zu tun, als hätte ich sie nie gesehen.
Als ich die Waffe dann aufnahm, lag sie wie für mich gemacht in meiner Hand. Ihr Lauf war so schlank und glatt wie der Körper einer Frau, und der Abzug schrie danach, berührt, gehalten, gestreichelt zu werden.
Und so hob ich die Pistole, wie ich es in Actionfilmen gesehen hatte, mit ausgestreckten Armen in den Anschlag und lief damit durch die Wohnung, wirbelte immer wieder ganz unvermittelt herum und zielte auf einen imaginären Feind. Dann betrachtete ich mich im Schlafzimmerspiegel, vor dem ich auch gestanden hatte, als ich das lederne Ponygeschirr anprobierte, ehe wir in Cheys Arbeitszimmer Sex gehabt hatten. Auf dem Schreibtisch mit der Pistole in der Schublade.
Ich wirkte ausgesprochen selbstbewusst, wie ich mit ausgestreckten Armen, durchgedrückten Ellbogen und angespannten Bauchmuskeln dastand. In meinen Augen funkelte ein Ausdruck, der irgendwo zwischen Lust und Grausamkeit angesiedelt war.
In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, ihn endlich verstehen zu können.
Das Animalische in ihm, seine Empfänglichkeit für den Reiz der Gefahr, sein Überlebenstrieb, der alle anderen Instinkte überlagerte, selbst wenn das bedeutete, einem geliebten Menschen wehzutun.
Doch dann traf mich der Schmerz wie ein Hieb. Wut stieg in mir auf, und ich verspürte den Wunsch zurückzuschlagen.
All die Verletzungen, Nervenanspannungen und Lügen ballten sich in meinem Magen zu einem Klumpen. Von dort floss ein Strom durch meine Glieder geradewegs in den Lauf der Waffe.
Ich wirbelte herum.
Hob die Arme.
Und drückte ab.
Der Knall dröhnte in meinen Ohren. Gleich darauf hörte ich ein Krachen, dann ein Klirren, und die Glasscheibe seines 40-Zoll-Flachbildschirms zerbarst und rieselte in Splittern zu Boden. Ich taumelte nach hinten, denn der Rückstoß war so stark, dass er mir beinahe die Schulter ausgekugelt hätte.
Mir schepperte es in den Ohren. Jetzt wusste ich, wozu so ein Schalldämpfer gut war. Das Echo des Schusses hallte wie ein Donnerschlag und hatte mit Sicherheit alle Nachbarn
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