80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
aufgescheucht. Ganz zu schweigen vom Klirren des Fernsehschirms, der jetzt in Scherben auf Cheys blankem Parkettboden lag.
Keinesfalls wollte ich so lange dableiben, bis Chey, die Nachbarn, die Polizei oder wer auch immer eine Erklärung verlangte, denn dann würde ich zwangsläufig enthüllen müssen, dass ich sein Geheimnis kannte. Man würde mich für seine Komplizin halten, und Cheys Feinde – zweifellos viele an der Zahl, denn wozu sonst brauchte er eine Waffe? – würden mich zu den Gegnern zählen. Seine Freunde würden vermuten, ich wäre im Besitz von Informationen, die mich zu einer Gefahr machten. Und Chey selbst käme zu dem Schluss, dass ich als Mitwisserin nicht frei herumlaufen durfte.
Also ergriff ich die Flucht.
Ich verstaute all mein Hab und Gut in der Segeltuchtasche, die er mir gekauft hatte, um meine Kostüme unzerknittert zu transportieren, und tauchte im Strom der Passanten unter. Inmitten von Menschen hatte ich mich schon immer am sichersten gefühlt, und so steuerte ich das Gewimmel am Times Square an. Unter den Touristen und Pendlern, die sich auf dem Bürgersteig drängten, fiel ich nicht weiter auf. Viele schauten auf die Bildschirme und Reklametafeln und verfolgten die in Endlosschleife ablaufenden Musikclips und Werbefilmchen. Andere tippten eifrig auf ihre Smartphones ein oder hantierten mit einem anderen Elektronikspielzeug herum, ohne mir die geringste Beachtung zu schenken.
Zu Anfang überwog in mir noch die Angst. Da war kein Raum für Ärger oder gar Wut.
Doch immer wenn mich jemand anrempelte, wenn ein Auto hupte oder ein Taxi den Straßenrand ansteuerte, setzte mein Herz einen Schlag lang aus, und mein Puls begann zu rasen. Besonders erschrak ich, als ein Hund mit klirrend über das Pflaster scheppernder Leine an mir vorbeischoss, dicht gefolgt von seinem Herrchen, das ihn einzuholen versuchte.
Bei einem Straßenhändler kaufte ich mir eine Tüte Brezeln und eine Dose Limonade, um etwas in meinen zitternden Händen halten zu können. Dann suchte ich mir eine freie Bank, setzte mich hin und dachte über meine nächsten Schritte nach.
Ich war in Aufruhr. Jede Faser, jeder Nerv, jeder Muskel waren zum Zerreißen gespannt und bereit, in Aktion zu treten. Ich fühlte mich, als wartete ich auf den nächsten Takt eines Songs, der mitten im Abspielen angehalten worden war. Meine Gedanken überschlugen sich, und Tränen rannen mir über die Wangen. Ich war hin und her gerissen zwischen Trauer und Wut und hätte Chey zugleich schlagen und küssen können.
So fühlte es sich also an, wenn man ein gebrochenes Herz hatte.
Ich warf ein Stück Brezel auf das Pflaster und zermalmte es mit dem Schuh. Dabei malte ich mir aus, was ich Chey alles an den Kopf werfen würde, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte – dass ich ohne ihn viel besser dran sei und ihn nicht im Geringsten bräuchte.
Doch kurz darauf fielen mir all die Dinge ein, die ich an ihm liebte, und schon fühlte ich mich wieder elend.
Ein Junge mit pinkfarbenem Iro sauste auf seinem Skateboard an mir vorbei, spuckte aus und traf fast mein Bein. Ich rief ihm ein russisches Schimpfwort nach, doch er lachte nur und rollte zu seinen Freunden weiter. Die fanden es klasse und ließen eine Flut von Flüchen auf mich niederprasseln.
Da platzte mir der Kragen. Mein Ärger über diese Provokation vermischte sich mit meiner Wut und verdrängte für einen Moment meinen Schmerz über die Verletzung. Das gab mir die Kraft, mich mit der Gegenwart und meiner neuen Situation zu befassen. Auf Chey konnte ich mich nun nicht mehr stützen. Ich war auf mich allein gestellt, und das hieß, dass ich mich zunächst einmal um ein sicheres Plätzchen für die Nacht kümmern musste. Dann konnte ich meine nächsten Schritte planen.
Blanca war die Erste, die mir einfiel.
Sie war auch die Einzige.
Sie war die Directrice, die Bühnenmanagerin, im Grand und die Frau, der ich mich näher fühlte als allen anderen, vielleicht weil auch sie aus Osteuropa stammte und ihre Heimat New Yorks wegen verlassen hatte. Die meisten Mädchen im Sweet Lola und im Grand waren Amerikanerinnen, mit denen ich nur wenig gemeinsam hatte. Selma und Santi kamen aus Mexiko, und Gina stammte aus Argentinien, doch da sie erst kurz dabei waren, hatten wir bisher kaum ein Wort gewechselt. Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe geben sollen, andererseits legten sie sich auch nicht gerade ins Zeug. Außerdem blieben die meisten ohnehin nicht länger als für ein paar
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