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80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)

80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)

Titel: 80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vina Jackson
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sie früher einmal Balletttänzerin hatte werden wollen, machte sie es sich zur Lebensaufgabe, dass ich diesen Traum verwirklichte. Sie ermutigte mich zu tanzen und brachte große finanzielle und zeitliche Opfer, um mich zu dem Erfolg zu führen, der ihr versagt geblieben war.
    Sie meldete mich an der örtlichen Ballettschule an, wo ich an drei Nachmittagen nach der Schule und an den Wochenenden den Unterricht besuchte. Um ihn bezahlen zu können, musste meine Tante jeden Samstag in unserer Wohnung Klavierunterricht geben. Für mich bedeutete es, dass ich an diesen Nachmittagen bei jedem Wetter, ob bei Regen, Schnee oder Sonnenschein, die knapp fünf Kilometer von unserer Wohnung zur Ballettschule allein und zu Fuß zurücklegen musste. Und das geschah immer öfter, weil ihr altes, gebraucht gekauftes Auto allmählich den Geist aufgab und sie mich nicht mehr abholen konnte.
    Es gab mir viel Zeit, meinen Träumen nachzuhängen.
    Wie die meisten kleinen Mädchen in Russland und erst recht in der Ukraine träumte ich davon, Primaballerina zu werden, und man versicherte mir immer wieder, dass es mir am entsprechenden Talent nicht fehle. Aber hatte ich auch die nötige Disziplin und den Ehrgeiz?
    Die Antwort auf diese Frage sah ganz anders aus.
    Ich war faul und nicht bereit, die klassischen Schrittfolgen zu lernen, ich verabscheute ihre Steifheit. Viel lieber verlor ich mich in der Musik und erfand meine eigenen Bewegungen, die sich ganz von selbst ergaben und nicht zu einer dieser rigiden Choreografien gehörten, die uns die strengen Lehrerinnen in unsere kleinen Schädel paukten.
    »Lubow Schewschenko«, tadelten sie mich immer wieder. »Du bist unverbesserlich. Was sollen wir bloß mit dir machen?«
    Ich glaube, ich war damals zehn oder elf. Irgendwie schaffte ich die Abschlussprüfung und wurde nach St. Petersburg eingeladen, um in der Geburtsstadt meines Vaters die angesehene Theater- und Ballettakademie zu besuchen. Ob in der Stadt noch irgendwelche Angehörige von ihm lebten, wusste ich nicht, und da ich Waise war, erhielt ich für die Lebenshaltungskosten ein kleines Stipendium. Ich hatte keine Wahl und musste in ein Wohnheim ziehen, wo ich mit anderen Mädchen zusammenlebte, die es ebenso wie mich aus ländlichen Gegenden in die Großstadt verschlagen hatte – in ein Gebäude der ehemaligen Geheimpolizei, das für die Unterbringung von wirtschaftlich Schwachen umgebaut worden war.
    Die Aussicht, auf mich selbst gestellt zu sein, ängstigte mich nicht. Zwischen meiner Tante und mir hatte es in den Jahren zuvor so viele Missverständnisse gegeben, dass wir uns oft nur noch anschwiegen. Sie hatte mich vom ersten Tag an wie eine Erwachsene behandelt, dabei hatte ich doch noch Kind sein wollen.
    Dennoch war es dann ausgesprochen schwer für mich, als ich ins kalte Wasser geworfen wurde und in einem Schlafsaal mit acht Betten auf engstem Raum mit anderen Mädchen zusammenleben musste. Die meisten waren ein paar Jahre älter als ich. Sie kamen aus Sibirien, Tadschikistan, zwei weitere wie ich aus der Ukraine und einige, mit makelloser Haut, hohen Wangenknochen und schlechten Zähnen, aus dem Baltikum. Mir wurde rasch klar, dass ich mit ihnen nur wenig gemeinsam hatte. Nur eine ging auf dieselbe Akademie wie ich, die anderen besuchten die verschiedensten Schulen, allesamt ohne künstlerische Ausrichtung. Daher stachen wir hervor wie bunte Hunde, Soscha und ich.
    Zu sagen, dass wir enge Freundinnen wurden, wäre übertrieben. Doch immerhin akzeptierte sie mich, obwohl sie sechzehn Monate älter war als ich und ihr Busen schon zu wachsen begann. Ich diente ihr als Botin, Hilfskraft und Schleuserin. Luba, ihre rechte Hand, wann immer es um etwas Illegales oder Verbotenes ging, also wenn Zigaretten in den Schlafsaal geschmuggelt werden sollten oder das untersagte Schminkzeug der anderen unter ihrer Matratze versteckt werden musste. Meine Grundausbildung in Gesetzesverstößen …
    Wenige Jahre später wurde Soscha schwanger. Sie hatte sich mit einem Jungen vom Polytechnikum angefreundet, und wann immer sie sich heimlich mit ihm traf, musste ich für ihr Fehlen eine Ausrede parat haben. Sie war damals erst sechzehn. Als man ihren Zustand herausfand, gab es kein Pardon. An dem einen Tag war sie noch bei uns, am nächsten wurde sie wie ein beschädigtes Paket zu ihrer Familie in der Nähe von Vilnius zurückgeschickt. Uns erzählte man, sie habe heimkehren müssen, weil es in ihrer Familie einen schweren Krankheitsfall

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