80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
Rothaarigen in dem schwarzen Kleid sprühten Funken. Ihr Körper war angespannt, und sie umklammerte den Oberschenkel des Mannes, während sie aufmerksam meine einstudierten Bewegungen verfolgte. Und er betrachtete nicht etwa mich, sondern sie, die mich betrachtete, und fixierte sie wie ein Löwe, der in der offenen Savanne gerade eine einsame Gazelle entdeckt hatte. Er hatte dichtes, dunkles Haar, breite Schultern, einen festen, schlanken Körper und schien mit sich und dem Leben im Reinen. Selbstbewusst, aber nicht eingebildet. So wie Chey.
Ich machte eine kleine Drehung, um die beiden direkt vor mir zu haben, gab mir aber weiterhin den Anschein, mein Publikum nicht wahrzunehmen. So, wie es Madame Denoux’ Rat war, den allerdings nur wenige meiner Kolleginnen befolgten. Tanzt, als ob euch niemand zuschaut. Die Leute im Publikum wollen sich als Voyeur fühlen, als wären sie Zeuge eines intimen Augenblicks, als würden sie von der Tänzerin etwas Privates oder Verbotenes erhaschen. Denn sonst seid ihr nur Mädchen, die sich für Geld ausziehen, also nichts Besonderes.
Sie hatte etwas an sich, diese junge Frau, die mir mit ihrem attraktiven Begleiter zuschaute – sie war mir ähnlich. Es war die Art, wie sie meinen Körper zu würdigen wusste, wie sie das Theaterhafte des Ganzen mit den Augen verschlang. Womöglich sah sie sich selbst auf der Bühne und fragte sich, wie sie sich fühlen würde, wenn all die Leute im Publikum ihr beim Tanzen zusähen und nicht mir. Auch Madame Denoux hatte es bemerkt. Ich hatte sie umhergehen sehen und stellte mir vor, dass sie eins und eins zusammenzählte, dass sie knallhart rechnete, um sich ja keine Gelegenheit entgehen zu lassen, einem Mann die Taschen zu leeren oder ein neues Mädchen für ihre Sammlung zu finden. So wie sie mich gefunden hatte.
War es der Ausdruck im Gesicht der Rothaarigen, oder lag es an dem Mann, der mich an Chey erinnerte? Oder hatte ein Ton eine leichte Variante in die Melodie gebracht, die ich eigentlich auswendig kannte? Schwer zu sagen.
Manchmal meldeten sich, ungerufen und unerwünscht, Erinnerungen zurück. Bruchstücke meiner Vergangenheit flackerten über einen Schirm mit Hintergrundbeleuchtung, Bilder, die sich jagten wie bei einem Drogentrip. Lebhaft. Schmerzlich.
Die Gesichter meiner Eltern, als ich sie zum letzten Mal sah; sie winkten mir zu, und ihr Auto entschwand in der Ferne auf dem Feldweg, der vom Landwirtschaftsinstitut wegführte, wo sie lebten und arbeiteten. Ich war fünf Jahre alt. Mein Vater leitete das Institut, meine Mutter war als Wissenschaftlerin im Labor und in den Versuchsgärten tätig. Hier hatten sie sich kennen- und lieben gelernt. So jedenfalls wurde es mir später von meiner Tante erzählt.
Er war ein Ingenieur aus Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, sie im Donbass geboren und aufgewachsen. Man hatte ihn befristet nach Donezk versetzt, er machte es jedoch zu seinem dauerhaften Wohnsitz, als sie heirateten und ihr erstes und einziges Kind bekamen. Mich.
Ich weiß, dass ich ein geliebtes Wunschkind war, und es schmerzt mich sehr, dass die Erinnerungen an meine frühe Kindheit und an meine Eltern im Lauf der Zeit immer mehr verblassen. Ich meine, unseren Gemüsegarten vor mir zu sehen und einige Spielsachen in meinem Kinderzimmer, doch den Klang ihrer Stimmen, die sanften Lieder meiner Mutter, die sie mir beim Einschlafen vorsang, kann ich nicht mehr heraufbeschwören. Lubaschka , glaube ich, nannte sie mich. Doch mittlerweile sind ihre Lieder und diese Erinnerungen so tief in mir verschüttet, dass ich sie nicht mehr hervorholen kann. Ebenso wenig das Lächeln auf ihrem Gesicht oder das strenge, professorenhafte Auftreten meines Vaters.
Ich weiß nicht einmal mehr, welche Farbe ihre Augen hatten. Die unechten Erinnerungen, die ich aus den wenigen über die Zeit geretteten Fotos ableite, sind alle in Schwarz-Weiß.
Der Fahrer des Lasters, der auf der Schnellstraße nach Moskau mit ihrem Wagen zusammenstieß, soll betrunken gewesen sein. Er hatte die Kontrolle über seinen mit Baumaterialien beladenen Sattelschlepper verloren. Dass er bei dem Unfall ebenfalls ums Leben kam, in seiner Fahrerkabine von den schweren Betonblöcken zerquetscht wurde, die sich auf der Ladefläche gelöst hatten, war mir kein Trost. Alle drei waren auf der Stelle tot. Es geschah mitten in der Nacht.
Ich kam bei meiner Tante unter, der geschiedenen und kinderlosen Schwester meiner Mutter. Auch sie lebte in der Nähe von Donezk. Da
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