80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
gegeben habe. Aber wir wussten es besser, wir kannten die Wahrheit.
Als ich mir knapp zwei Jahre später, kurz vor meinem Abschluss an der Akademie, gerade überlegte, beim Corps de Ballet eines unbedeutenderen Ballettensembles der Stadt mitzutanzen, erhielt ich ganz überraschend einen kurzen Brief von Soscha. Sie hatte einen Jungen bekommen, ihn Iwan genannt und inzwischen einen älteren Mann geheiratet, der in der Gemeindeverwaltung arbeitete. Sie schrieb, sie sei glücklich, und hatte ein Bild von ihrer Familie beigelegt. Das Foto war in einem Garten aufgenommen, die nackten Zweige der Bäume ragten wie blanke Knochen in den Himmel, und selbst das Gras hatte ein ungesundes Grün. Soscha war damals noch nicht einmal neunzehn, wirkte in meinen Augen aber bereits wie eine alte Frau – zumindest um Jahre älter, als sie tatsächlich war. Ihre Augen waren eingesunken, das Haar stumpf und der Funke der Jugend für immer verloschen.
An diesem Tag schwor ich mir, niemals zu heiraten und Kinder zu kriegen.
Damals hatten wir am Vormittag normalen Unterricht: Russisch (mein Lieblingsfach), Rechnen (später Mathematik und Geometrie), Geschichte, Geografie, Staatsbürgerkunde und anderes. Gewöhnlich sank ich während dieser Stunden in allertiefste Tagträume. Nachmittags mussten wir in der Akademie lernen, üben und proben. Jede von uns hatte drei verschiedene Tanzkostüme, eines davon ausschließlich für die Auftritte, wenn ein Ballett nach monatelangem Einstudieren endlich bei einer Gala das Licht der Welt erblicken durfte. Ich bekam nie ein Solo, und es schien mir, als sollte ich bis ans Ende meiner Tage im Corps als junger Schwan dahinflattern. Dabei fühlte ich mich eher wie eine zappelnde Ente. Oh, wie ich Tschaikowski hasste!
In der Ballettschule hatten wir auch samstags Unterricht, und es blieb uns nur der Sonntag als freier Tag. Vormittags waren wir allerdings meist damit beschäftigt, unsere Kleider zu waschen, zu bügeln, zu flicken und den Schlafsaal in Ordnung zu bringen, sodass wir eigentlich nur an den Sonntagnachmittagen tun und lassen konnten, was wir wollten. Meistens gingen wir dann ins Kino und in eine Eisdiele in der Nähe und nutzten die Gelegenheit, uns mit Jungs zu treffen. Um acht mussten die Jüngeren wieder im Wohnheim sein, um Punkt halb zehn die über Fünfzehnjährigen. Da gab es keine Ausnahme, und Ungehorsam oder ein Verstoß gegen die Vorschriften zog unweigerlich Hausarrest an den nächsten Wochenenden nach sich.
Ach ja, die Jungs …
Es war wirklich kein Wunder, dass ich mich für sie zu interessieren begann, nachdem ich jahrelang – und die Jahre eines Teenagers ziehen sich endlos in die Länge – mit sieben Mädchen in einer Welt voll verstohlener Geständnisse, aufgebauschter Geschichten, tobender Hormone und Eifersüchteleien zusammengelebt hatte. Wir verfolgten einander mit wahren Argusaugen, brannten vor Neugier, glühten vor Eifersucht, als gäbe es kein Morgen. Wer war die Schönste, die Größte, wer hatte den am weitesten entwickelten Busen?
Einige machten ein Geheimnis daraus, als sie ihre erste Periode bekamen, andere verkündeten es Gott und der Welt. Ich, das Waisenkind aus der Ukraine, war weder das hässliche Entlein noch die Größte unter ihnen; ich hatte nicht die weiblichsten Rundungen und war auch nicht die Erste oder die Letzte, bei der die Blutungen einsetzten. Doch tief in meinem Innern wusste ich schon damals, dass ich etwas Besonderes war. Aus diesem Gefühl heraus entwickelte ich den Ehrgeiz, die Welt kennenzulernen, ganz anders als meine Mitschülerinnen, die sich gedanklich gerade mal mit der näheren Zukunft befassten, ein Studium planten oder überlegten, wie sie eine möglichst gute Partie machen konnten. Ich aber hörte überall eine leise Stimme, die mir zuflüsterte, dass es im Leben mehr geben müsse.
Und dann der Sex …
Ein beliebtes Gesprächsthema in den Stunden nach dem Zapfenstreich im Schlafsaal der Mädchen. Allerdings wurde darüber auch am helllichten Tag in den Garderoben, während der Proben, in den Duschen und an der roten Backsteinmauer hinter dem Haus getuschelt, wo wir uns abwechselnd zum Rauchen einfanden, weil wir wussten, dass dort bestimmt keine der Aufseherinnen vorbeikommen würde.
Da ich eine der Jüngsten war, sah ich mir zunächst nur an, was sich da alles tat im Haus der Lust. Meine Mitbewohnerinnen waren im Laufe der Jahre erblüht, während ich trotz meiner Ballettstunden und des mir auferlegten anstrengenden
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