80 Days - Die Farbe des Verlangens: Band 4 Roman (German Edition)
der durch meine Adern schoss. »Du Dreckskerl!«
Chey sagte keinen Ton.
»Seit wann? Wie lange weißt du schon, wo ich bin, ohne dich zu melden?«
»Ich bin dir von Viggo Francks Haus aus gefolgt«, antwortete er.
»Und wie lange weißt du schon, dass ich in London bin?«
»Ich habe dich auf einem Foto in einer Zeitschrift gesehen – mit Viggo bei irgendeiner Veranstaltung. Daher wusste ich, wo du bist. Und auch, dass du ein neues Leben begonnen hast und glücklich bist. Aber ich musste dich einfach treffen.«
Er sah genauso aus wie immer, schön in seiner ungezähmten Art, wenn er auch irgendwie müde, ja sogar verunsichert wirkte. Er trug dunkelblaue Jeans, ein eng anliegendes weißes T-Shirt und hatte sich eine braune Lederjacke über die Schulter gehängt. Seine Stiefel waren abgewetzt.
Allmählich bekam ich mich wieder in den Griff. Da ich keinerlei Anstalten machte aufzustehen, setzte er sich neben mich, nahm mir das Buch aus der Hand und legte es weg.
»Sag was«, forderte er mich auf.
»Ist es nicht an dir, mir etwas zu erzählen?«
Das Paar war mittlerweile verschwunden, wir hatten die Lichtung für uns allein. Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und die Dämmerung senkte sich herab.
»Als ich herausfand, wo du warst, konnte ich nicht anders«, sagte Chey.
»Ach ja?«
»Du hast das Tanzen also aufgegeben?« Offenbar wollte er das Thema wechseln.
»Nein, das Tanzen mich.«
Ich schaute ihm in die Augen, und die Beseeltheit seines Blicks überwältigte mich.
Meine Wut löste sich zusehends in Luft auf. Aber Fragen über Fragen schwirrten mir im Kopf herum. Sein Verschwinden, die Pistole, die Geschenke, Lev, es war alles zu viel. Ich brauchte Antworten.
»Warum?«, fragte ich.
Er öffnete den Mund, doch ehe er etwas sagen konnte, legte ich ihm die Finger auf die Lippen.
»Die Wahrheit, Chey. Ich muss die Wahrheit wissen. Bitte keine Lügen.«
Die – viel zu – kurze Berührung seiner festen und doch weichen Lippen ging mir durch und durch. Berauscht dachte ich daran, wie er mich vor langer, langer Zeit geküsst und in den Armen gehalten hatte, und die Erinnerungen brachen auf wie alte, niemals richtig verheilte Wunden.
Da er meine Reaktion spürte, legte er die Hand an meine Wange und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Das ist eine lange Geschichte …«
»Ich habe alle Zeit der Welt.«
Der Bernsteinhandel war tatsächlich sein Beruf und nicht bloß Fassade. Er hatte das kleine Geschäft von seinem Großvater geerbt. Schon als Junge hatte ihn die Vielfalt dieser harzigen Fossilien fasziniert, die nicht nur als Schmucksteine, sondern auch als Heilmittel und als Bestandteil von Parfüm Verwendung fanden. Schon damals, als wir uns erst kurz kannten, hatte er viel über die Entstehung von Bernstein erklärt und von seinen Eigenschaften geschwärmt. Doch was er mir jetzt erzählte, war eine ganz andere Geschichte.
Aus geologischen Gründen stammt der beste Bernstein aus den baltischen Staaten, für die er ein wichtiges Exportgut ist. Und darum hatte auch Chey häufig Bernstein von dort importiert. Eines Tages hatten die Behörden eine Razzia in Cheys Lagerhaus durchgeführt. Sie hatten den Tipp bekommen, dass mit einer Lieferung aus Kaliningrad – einer Hochburg der russischen Mafia – eine beträchtliche Menge Heroin eingeschmuggelt worden war. Offenbar waren die Kisten, in die Chey den ganz legal erworbenen Bernstein eigenhändig verpackt hatte, manipuliert worden. Unter einem doppelten Boden hatte man etliche Kilo Heroin versteckt, für die der Bernstein als Tarnung diente.
Im Verhör hatte Chey seine Unschuld nicht beweisen können. Unglücklicherweise hatte er die Ware nicht nur selbst verpackt, sondern auch die Papiere ausgestellt, die einige Unregelmäßigkeiten aufwiesen, da er es mit der Menge nicht so genau genommen hatte, um Einfuhrzoll zu sparen. Das hatte seine Lage nicht leichter gemacht. Ob ihm die Drogenpolizei nun glaubte oder nicht, er steckte auf jeden Fall in der Bredouille.
In dieser Situation hatte man ihm eines jener berühmten Angebote gemacht, die man nicht ablehnen kann. Er hatte sich verpflichtet, mit den US-Behörden zusammenzuarbeiten, wie bisher Bernstein zu importieren und sich in die Mafiaorganisation einzuschleichen. Kurz, er wurde als Informant angeheuert.
Als wir uns kennenlernten, lief das schon seit einigen Jahren. Dies war die Erklärung für seine häufige Abwesenheit, seine manchmal zweifelhaften Bekannten und Umgangsformen und die
Weitere Kostenlose Bücher