80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
blitzschnell näherkommen und ging unwillkürlich in die Hocke, wartete auf den Aufprall.
Doch der blieb aus. Es gab keine Kollision, nur ein seltsames Übereinandergleiten der beiden Schiffe. Sie passierten einander, ohne auf Widerstand zu treffen. Der höhere der beiden Masten des Fischerbootes erschien an Deck und zog eine Spur hinein wie ein Kiel in eine Wasseroberfläche. Die Schreie der Männer, die in die durchlässige Masse des Geisterschiffs hineingezogen wurden, währten nur wenige Sekunden. Als die Liberas Nos über das Boot hinweggezogen war, lagen auf dem Deck des kleinen Fahrzeugs nur schlaffe, leblose Körper. Weitere solcher Körper trieben im Wasser.
Der Kapitän rief etwas, und die Crew begann wieder zu arbeiten. Sir Darren sah lange dem führerlos dahintreibenden Boot nach, und daher fiel ihm erst sehr viel später auf, dass das Schiff und der Wind nun plötzlich wieder eine Einheit mit der Crew bildeten. Die Libera Nos kehrte auf ihren ursprünglichen Kurs zurück, als wäre nichts geschehen.
Das zerknitterte Gesicht Bernard Fokkes tauchte neben dem Passagier auf. Lange schwiegen die beiden. Der Kapitän schien nichts zu sagen zu haben, und dem Dozenten fiel keine Frage ein, was bei ihm eine Seltenheit war. Schließlich entschied sich Sir Darren, an dem Punkt anzuknüpfen, an dem ihr Gespräch durch den grausamen Zwischenfall unterbrochen worden war.
„Was ist das für ein Fluch?“, wollte er wissen.
„Er sollte uns Kraft geben“, erwiderte der Kapitän. „Wir waren schnell, schnell wie ein Höllenhund, dem der Schwanz brennt, aber das war mir nicht schnell genug. Ich dachte, ein Verbündeter könnte uns nicht schaden.“
„Was für ein Verbündeter?“
„Ich rede nicht über ihn. Ich möchte ihn nicht beschreiben. Nicht an ihn denken. Er ist das einzige, wovor ich noch Angst habe, nach all den Jahrhunderten, nach den Tausenden von Fahrten …“
„Wie hilft er Ihnen? Was tut er?“
Der Kapitän kratzte sich das Haar, dann den Bart, dann die Brust, als liefe ein Floh quer über seinen ganzen Körper. „Er ist da unten.“
„Wo?“
„Neun Faden tief. Nicht sehr tief. Nein.“
Sir Darren fand die Antwort nicht sehr erhellend, denn er konnte sich nur schwer vorstellen, wer oder was sich in einer Tiefe von neun Faden, also etwa sechzehn Metern, aufhalten sollte. Dennoch wollte er für den Augenblick den Wunsch des Kapitäns respektieren, nicht weiter darüber zu reden.
Das Thema schien den alten Seebären allerdings nicht loszulassen, und nachdem er eine Stunde lang lustlos seine Kommandos in den Wind gebrüllt hatte, suchte er erneut seinen Passagier auf.
„Schließe niemals einen Pakt mit jemandem, den du nicht mindestens so gut kennst wie dich selbst“, sagte er und legte seine Pranke auf die Schulter des Briten. „Du wirst sonst bitter dafür bezahlen.“
Sir Darren ließ sich die Worte durch den Kopf gehen und fragte nach langem Nachdenken: „Ich … habe eine Wette abgeschlossen. Ist das auch eine Art Pakt, was meinen Sie, Kapitän?“
„Mit jemandem, den du nicht gut kennst?“
„Mit vier Leuten, die ich nie zuvor gesehen habe.“
Fokke verzog die Lippen. „Dann bist du verloren, mein Junge“, brummte er.
3
Die Tage vergingen nicht, sie verflogen.
Und das, obwohl die Reise an Monotonie kaum zu übertreffen war. Ob es stürmte oder Flaute herrschte, ob es in Strömen regnete oder die Sonne heiß auf das Deck herabbrannte – die Libera Nos hatte ihre eigene Brise, stellte sich auf alles ein, segelte über eine spiegelglatte See ebenso wie über eine vom Sturm gepeitschte. Bei den täglichen Verrichtungen der Matrosen gab es keine Abwechslung und keine Ausnahme und keinen, der ihm anvertraute, ob er seine Arbeit liebte oder hasste.
Trotzdem zerrann ihm die Zeit wie Sand zwischen den Fingern. Die Zeiger seiner Armbanduhr schienen mit jedem Tag schneller zu kreisen, und auch die Tatsache, dass sein Tag nun 24 Stunden hatte und weder durch Schlaf noch durch Mahlzeiten unterbrochen wurde, wirkte sich nicht verzögernd aus. Eine Woche verging, und kaum war die zweite angebrochen, war sie auch schon wieder vorüber. Die Küste kam nie in Sicht, und glücklicherweise kreuzten auch immer weniger Schiffe ihren Weg. Sir Darren hatte festgestellt, dass die Libera Nos längst nicht jedes Schiff attackierte, das in Sichtweite kam. Natürlich musste das so sein, sonst hätte sie bereits im IJsselmeer ein Blutbad angerichtet. Er erlebte kein weiteres Mal einen solchen
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