Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
Angriff, wie er ihn mitgemacht hatte, und es kam offenbar nur selten vor, doch wenn es geschah, hatte die Crew dem nichts entgegenzusetzen.
    Sir Darren verstand nun, warum es Berichte von Seeleuten gab, die den Fliegenden Holländer nur gesehen hatten, und andererseits Geschichten, die ihn für die Vernichtung eines Schiffes verantwortlich machten. Beide Darstellungen entsprachen der Wahrheit. Es hing alles von dem Wesen ab, das in neun Faden Tiefe mit ihnen reiste. Es entschied über Leben und Tod.
    „Wer oder was ist es?“, stellte der Dozent die Frage wieder und wieder.
    Und einmal, am Ende der dritten Woche, nachdem er ein Dutzend Mal geschwiegen hatte, gab ihm Fokke eine Antwort darauf. Es war nicht die Antwort, mit der er gerechnet hatte.
    „Der da unten“, sagte der Kapitän mit erstaunlich klarer Stimme, „ist deine ganze Hoffnung. Wenn du es jemals in achtzig Tagen um die Erde schaffst, dann bedanke dich bei ihm. Ja, zum Teufel! Er ist unser Albtraum, aber deine Hoffnung, deine einzige. Er macht dieses Schiff so schnell, wie es verflucht noch einmal ist. Er hält uns in der Hand, aber wir sind noch immer seine Verbündeten.“
    Sir Darren sah ihn erstaunt an.
    „Ja, ja!“, rief Fokke. „Ich habe ihm alles gegeben, was ich habe. Mein Leben, meine Seele, alles. Jetzt will ich sehen, ob er auch alles gibt, wenn es darauf ankommt.“
    Der Dozent empfand stundenlang eine merkwürdige, körperlose Übelkeit. Er tat es als eine Art Seekrankheit ab, die offenbar auch Gespenster befiel. In Wirklichkeit, und das wusste er, war es der Gedanke an irgendein unaussprechliches Etwas, das sechzehn Meter unter dem Schiff lauerte, das Schiffe fraß, wenn es hungrig war, und der Libera Nos ihr märchenhaftes Tempo verlieh.
    Er sah auf die Meeresoberfläche hinab und versuchte, im Schatten unter dem Schiff etwas auszumachen. Manchmal, wenn die Sonne ihre Strahlen tief in das bewegliche Prisma des Wassers hinein schickte, glaubte er, dort unten eine Gestalt zu erkennen, etwas, das einem knotigen Gespinst aus dickem Riementang ähnelte.
    Nur zwei Tage nach diesem Gespräch wurde Sir Darrens Neugier nach dem Äußeren des Wesens gestillt. Doch über sein Inneres blieb er nach wie vor im Unklaren.
    Es war am frühen Morgen. Die Zeiger seiner Uhr wiesen auf halb fünf, als ihm etwas Ungewöhnliches auffiel. Zwar zeigte sich am Horizont das erste Morgengrauen, doch davon abgesehen waren die grün phosphoreszierenden Zeichen auf dem Zifferblatt und den Zeigern die einzige Helligkeit, die er wahrnehmen konnte. Mit anderen Worten: Die glosenden Augen der Crew und des Kapitäns – sie waren nicht zu sehen! Sie mussten in den wenigen Minuten verschwunden sein, die er nach Osten geblickt hatte, den neuen Tag erwartend und gleichzeitig fürchtend, denn seine wertvolle Zeit lief immer weiter ab.
    Er konnte sich nicht vorstellen, dass die verwünschte Crew sich in Luft aufgelöst hatte, daher blieb nur eine einzige, eine beinahe ebenso unwahrscheinliche Erklärung: Sie hatten sich unter Deck verkrochen. Falls das stimmte, dann war es das erste Mal in den mehr als drei Wochen, die er an Bord weilte, dass sie dies taten. Man brauchte nicht sehr intelligent zu sein, um zu vermuten, dass ein solches Verhalten einen besonderen Grund haben musste.
    Sir Darren lief über das Deck, eilig und aufrecht. Er rief nicht nach dem Kapitän, sah sich nur stumm nach Spuren ihres hektischen Verschwindens um. Falls es solche Spuren gab, dann war es zu dunkel, um sie zu erkennen. Er lief die Konturen des Schiffs einmal ab und wollte schon unter Deck gehen, um nachzusehen, da fiel ihm auf, dass etwas in der Mitte des Schiffes saß.
    Oder stand, oder lag – es war schwer, das zu entscheiden.
    Es war ungefähr doppelt so groß wie ein Mensch und ähnelte nichts, was er bisher gesehen hatte. Zunächst hielt er es für eine Art Meerestier, das durch die Brandung an Bord gespült worden war. Vor einigen Tagen hatte es einen Sturm gegeben, und einige Fische waren aufs Deck geschleudert worden. Die Crew hatte versucht, die Tiere wieder ins Meer zurückzuwerfen, doch die armen Kreaturen starben in ihren Händen, kaum dass die Geister sie berührt hatten. Sir Darren wagte nicht, dasselbe zu versuchen. Er wusste nicht, ob er es ertragen konnte, wenn Leben durch seine bloße Berührung ausgelöscht wurde.
    Dieses Wesen hätte, aus großer Entfernung und bei den ungünstigen Lichtverhältnissen besehen, ein aufrecht stehender Tintenfisch sein können, doch je

Weitere Kostenlose Bücher