Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
weiter der Dozent sich ihm näherte, desto weniger passte der Vergleich. Es war ein flatterndes, zerrissen wirkendes Ding, wie eine über und über mit zerfetzten Tüchern behangene Wäschespinne. Darüber thronte eine Art Kopf, der von allen Seiten betrachtet gleich aussah, eine runde, endlose Reihe von Augen und Mündern …
    Wasser tropfte von den Gliedmaßen oder Flossen oder Kleidungsstücken.
    Sir Darren gab sich zunächst der Illusion hin, das Wesen könne ihn noch nicht bemerkt haben. Irgendwann, während er es leise umkreiste, registrierte er, dass die stumpf schimmernden Pupillen in den zahllosen kleinen runden Augen nicht starr in die Nacht sahen, sondern ihm unablässig folgten.
    Den ersten Impuls, der ihm befahl zurückzuweichen, unterdrückte er. Er tat genau das Gegenteil und näherte sich der Gestalt. Langsam. Taxierend.
    Er rief sich ins Gedächtnis, dass er keine Angst zu haben brauchte, was immer dieses Ding auch war. Es mochte die mörderischste Kreatur der sieben Weltmeere sein – ihm konnte sie nichts anhaben. Er war über all das hinaus. Mochten sich rasiermesserscharfe Zähne in den unzähligen kleinen Mündern verbergen, mochten sich die zerfetzten Gliedmaßen als würgende Fangarme oder die tödlichen Nesselarme giftiger Quallen erweisen, er hatte kein lebendiges Herz, das deswegen schneller schlagen würde. Noch fünf Schritte trennten ihn von dem unbeschreiblichen Etwas.
    Dann erkannte er die Angst. Seine Angst.
    Er erkannte sie in zwei Schritten.
    Der erste Schritt war vergleichsweise harmlos. Er erinnerte sich an die Worte des Kapitäns: „Er ist das einzige, wovor ich noch Angst habe, nach all den Jahrhunderten.“ Wenn Bernard Fokke das sagte, dann hatte es Gewicht.
    Der zweite Schritt war viel grauenvoller. Sir Darren hörte auf, sich zu erinnern, hörte auf, über etwas nachzudenken. Er sah . Sah in die Augen der Bestie hinein, und erkannte, dass sich dort etwas spiegelte.
    Nicht das Schiff, nicht seine eigene Gestalt.
    Seine Angst.
    Seine eigene verdammte Angst, die er in sich selbst noch nicht einmal gespürt hatte, sah er mit eigenen Augen als Spiegelung in dem Blick des Ungeheuers. Er hätte später nicht mehr sagen können, wie sie ausgesehen, wie sie sich manifestiert hatte, er wusste nur, dass sie da gewesen war, deutlich und alles beherrschend.
    Mit einem Gurgeln warf er sich zurück, fiel ungeschickt zu Boden, kroch voller Panik über das Deck, ohne Orientierung. Immer wieder riss er den Kopf herum, blickte zurück. Die ersten Male saß das Ding noch dort, und in Sir Darrens Geist war nur Raum für einen einzigen verrückten Gedanken: Ich muss eine Distanz zwischen mich und dieses Geschöpf bringen – eine Distanz, die einer halben Weltumrundung entspricht.
    Unfähig, etwas Sinnvolleres zu denken, robbte er weiter, erreichte das Schanzkleid, drückte sich dagegen, schob sich mit dem Rücken an der Reling empor, beugte sich zurück, beinahe bereit, zuzulassen, dass sein Körper das Übergewicht nach hinten bekam.
    Da bewegte sich das Wesen, reckte sich empor – und verschwand mit einem raschelnden Geräusch in der Takelage.
    Es flog nicht aus eigener Kraft, soviel konnte man erkennen. Ein Windstoß trug es nach oben, und die Segel wölbten sich zur Seite, um den Weg freizugeben. Wenn es noch eines Beweises bedurft hatte, dass dieses Geschöpf dasjenige war, das Wind und Schiff beherrschte, dann war dieser hiermit gegeben.
    So weit schoss es in den Nachthimmel empor, dass Sir Darren dachte, es fliege dort oben umher, doch nach einer halben Minute hörte er ein Klatschen unweit des Schiffes und wusste, dass der Wind es losgelassen hatte und es wieder in sein Element eingetaucht war. Er war sicher, es würde unverzüglich seinen Platz einnehmen, neun Faden unter dem Schiff.
    Kaum war es von Deck verschwunden, kam die Crew wieder aus den Kajüten gekrochen, allen voran der Kapitän.
    „Es … hätte mich beinahe umgebracht“, keuchte Sir Darren. „Ich war im Begriff, mich über die Reling fallen zu lassen.“
    „Wie hätte es dich denn töten sollen, du Dummkopf!“, tobte Fokke, den die Erleichterung über das Verschwinden des Ungeheuers geradezu euphorisch zu stimmen schien. „Das einzige, was es dir antun kann, ist, dich vergessen zu lassen, dass es dir nichts anhaben kann.“
    „Ich habe meine Angst gesehen.“ Die Hände des Dozenten zitterten. Sein Geist begriff, was der Kapitän sagte, doch seine Seele war zu sehr erschüttert, um sich sofort davon beruhigen zu

Weitere Kostenlose Bücher