80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste
Amsterdam, für die anderen Menschen unsichtbar war, während sie auf offener See gesehen werden konnte. Es gab noch Geheimnisse, die er nicht durchschaute, doch sie waren ihm auf entsetzliche Weise gleichgültig. Er hatte sein Schicksal vor Augen und die Angst im Herzen, und diese beiden machten ihn zu einem hilflosen Stück Existenz, zu einer Kreatur auf der Flucht, einer Kreatur, in der nicht mehr viel von dem Darren Edgar übrig blieb, der er einst gewesen war.
Sie durchfuhren die Sundastraße und tauchten bald in das bunte Treiben des Hafens ein. Der Sunda Kelapa ist der ehemalige holländische Hafen und der kleinere der beiden Häfen Jakartas. Im Gegensatz zum weitaus größeren und moderneren Tanjung Priok wird der Sunda Kelapa in der Hauptsache von den einheimischen Schiffen genutzt, traditionell gestaltete Frachtsegler, die für exotische Stimmung sorgen.
Der einzige an Bord, der für diese Schönheit empfänglich war, schien der Kapitän zu sein. Der dunkle, grobknochige Mann war in den Stunden der Anfahrt förmlich aufgeblüht. Mit verkniffenem Gesicht, aber mit strahlenden, erwartungsvollen Augen sah er seinem Batavia entgegen. Die Crew ging weiter stumpfsinnig ihren Arbeiten nach, und der Passagier vermochte den Blick kaum von seiner Armbanduhr zu lösen. Als der Hafen näher kam, ging er unter Deck, wo er die Stofftasche mit den diversen Gegenständen untergebracht hatte. Noch immer war ihm schleierhaft, was er mit der Flasche, der Armbrust und dem Schreibzeug anfangen sollte, doch er wollte sie nicht zurücklassen.
Es war ein ungewöhnliches Gefühl, nach sieben Wochen auf teils stürmischer See wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Inzwischen nahm der Dozent es wie selbstverständlich hin, dass er den Asphalt, auf dem er ging, spüren konnte, während er für die Menschen unsichtbar und durchlässig war. Physik war etwas für Lebende. Jedenfalls jene Physik, die man ihm in der Schule beigebracht hatte.
„Morgen früh laufen wir wieder aus.“ Das waren die Worte, mit denen Kapitän Bernard Fokke ihn verabschiedete. Sir Darren hörte sie kaum. In dem Moment, in dem er an Land gegangen war, hatte er eine Entscheidung getroffen. Deshalb hatte er auch seine Tasche geholt.
Er würde nicht mehr auf die Libera Nos zurückkehren.
Jeden Versuch, binnen einer Woche den halben Globus zu umsegeln, konnte man nur als hirnrissig bezeichnen. Vor allem aber wollte er sicherstellen, dass er dieses furchtbare Etwas nie mehr wiedersehen würde, das ihm auf dem Schiff begegnet war – ganz gleich, was mit ihm geschehen mochte. Nichts im Diesseits und Jenseits zusammen konnte schlimmer sein als diesem Materie gewordenen Albtraum gegenüberzustehen.
Sir Darren gab seine Wette und damit sein Leben auf.
Er war kein Phileas Fogg mehr.
Er war jetzt ein Passepartout. Ein ewiger Passant. Einer, der überall hineinpasste, weil er nirgends hingehörte. Jemand, der durch verschlossene Türen ging.
Ein Dietrich. Das war die Übersetzung des französischen Wortes.
5
Am Ende des Kais standen bunte Trucks in einer Reihe, und der äußerste davon fuhr eben ab. In gemächlichem Tempo kam er auf Sir Darren zu, der es nicht für nötig hielt, ihm auszuweichen. Auf dem Asphalt hatten sich Lachen gebildet, von denen nun Wasser aufspritzte. Überall wurde Holz verladen – die Arbeiter hatten gegen die Sonne weiße Tücher um den Kopf geschlungen, manche trugen blaue Stoffkappen, niemand hatte einen Helm auf. Ein Snackverkäufer fuhr mit einem Fahrrad an den Schiffen vorüber, an dem ein rosafarbener hölzerner Wagen hing. Alle hundert Meter stellte er ihn ab, spannte den Schirm auf, der am Wagen befestigt war und stellte sich in dessen Schatten.
Sir Darren spürte die Hitze, aber nicht so, wie er sie gespürt hatte, als er noch unter den Lebenden gewesen war. Es war in indirektes, umständliches Gefühl, wie eine Gänsehaut, die man nicht von der Kälte bekam, sondern davon, dass man an etwas Bestimmtes dachte. Vielleicht war das, was er für eine Empfindung hielt, nur die Erinnerung an eine solche. Er fühlte die Hitze, weil er erwartete, sie zu fühlen.
Er trat auf ein anderes Kai hinaus, an dem die gleichförmigen Schiffe in weniger dichten Reihen ankerten. Zur Libera Nos hatte er sich nicht ein einziges Mal umgewandt.
Sein Blick fiel auf ein Schiff, das sich von den anderen zu unterscheiden schien. Es war größer als die hier üblichen Schoner und lag ganz am Ende des Kais, wuchtig und dennoch von
Weitere Kostenlose Bücher