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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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lassen.
    „Aber sicher. Alles andere hätte mich auch gewundert“, lachte Fokke.
    „Sie hätten mir … sagen müssen, was mich erwartet.“
    „Denkst du wirklich, ich hätte das gekonnt? Manche Dinge sind umso überraschender, je mehr man darauf vorbereitet wird.“
    Sir Darren senkte den Kopf. Ja, das verstand er. Da hatte der Kapitän wohl recht.
    „Kommt es oft an Bord?“, wollte er wissen.
    „Selten vor dem Kap“, antwortete Fokke. „Aber es wollte sich dich wohl einmal aus nächster Nähe betrachten. Und du wolltest dasselbe, stimmt’s? Vielleicht kapierst du jetzt, warum ich es dir nicht beschreiben wollte. Alles bestens. Jetzt ist es wieder da, wo es hingehört.“
    „Neun Faden tief“, hauchte Sir Darren. Neun Faden tief – hatte er das schon einmal irgendwo gehört, ehe der Kapitän diese Formulierung verwendete? In einem Buch vielleicht? In einem Gedicht?
    „Noch wenige Tage bis zum Kap“, sagte Fokke. „Das ist die schwierigste Stelle, ein verflixtes stürmisches Loch. Dort habe ich ihn damals um Hilfe gebeten. Jede günstige Brise, die wir je hatten, verkehrt sich dort ins Gegenteil.“ Er spuckte über die Reling, doch sein Speichel war ein staubiger, trockener Klumpen. „Wie hätte ich wissen sollen, dass er in Wirklichkeit unsere Hilfe brauchte? Unsere Leben, unsere Seelen? Da sind nicht nur Fische im Ozean, Junge!“
    Etwas war seltsam. Sir Darren spürte, dass der Kapitän bereit gewesen wäre, noch mehr zu erzählen. Eine besondere Spannung schien ihn ergriffen zu haben, und erstmals seit Beginn ihrer Fahrt wäre es für den Dozenten ein Leichtes gewesen, alle seine Fragen beantwortet zu bekommen.
    Doch diesmal war es der Passagier, der nicht reden wollte. Der Schock, den die Begegnung mit dem Wesen bei ihm hinterlassen hatte, ebbte nicht ab, die Erinnerung blieb präsent, und Sir Darren gelang es nicht, Fragen über das Ding zu formulieren. Wie ein Mensch, dem der Arzt eben eine tödliche Krankheit diagnostiziert hatte, war er erschüttert und sprachlos, unfähig, Fragen zu stellen über den Krebs, den er auf dem Röntgenbild gesehen hatte.
    Der Wind wurde stärker und unregelmäßiger. Sie näherten sich dem Kap der Guten Hoffnung – was für ein zynischer Name für den Ort, an dem die Libera Nos verflucht worden war …

4
    Hatte er geglaubt, er hätte sich an das Knarren der Masten, Rahen und Stegen gewöhnt, dann hatte er sich getäuscht. Was er bislang erlebt hatte, war nichts gewesen. Der Wind begann zu bocken wie ein Wildpferd – das war der Anfang – und verwandelte sich tagelang in ein schieres Chaos aus Luft und Wasser. Sir Darren kam sich vor, als wäre er in einer dreidimensionalen, körperlichen Version von statischem Rauschen gefangen ... und dies war der letzte auch nur entfernt poetische Gedanke, den er für einige Zeit hatte. Alles, was blieb, war ein Meer aus Furcht.
    Kein lebender Seemann hätte einen solchen Hurrikan überstanden, nur diese stoischen Geister fanden sich in dem schäumenden Wirbel zurecht. Nur ihnen war es möglich, hundert Mal von Rundhölzern getroffen, an der Reling zerschmettert, von Wasser ersäuft zu werden, ohne zu sterben, vor allem aber, ohne aufzugeben.
    Die Tage, da die Libera Nos über die Wasserfläche gelaufen war wie ein Wellengleiter, waren vorüber. Jetzt wurde sie hin und her geworfen, auf Wellenberge gehoben und in Wellentäler geklatscht, bis ihre Gespensterbalken kreischende Seufzer von sich gaben. Die Gischt versperrte ihre Sicht zum Himmel, und die Tage waren kaum heller als die Nächte.
    Am schlimmster war, dass das Wesen aus neun Faden Tiefe sich in diesem Unwetter wohlzufühlen schien. Mehrmals erschien es an Bord, war halb hinter den Segeln verborgen, die sich selbst setzten, und wenn man wieder einmal von der Wucht der Wellen über das Deck geschleudert wurde, rutschte man an dem Geschöpf vorüber oder – was am schrecklichsten war – unter ihm hindurch, wenn es in der Takelage hing. Die Angst, die man bei seinem Anblick spürte, war immer wieder neu und immer gleich groß. Sich daran zu gewöhnen, war unmöglich.
    Der Sturm währte die längsten hundert Stunden, die Sir Darren erlebt hatte. Als der Wind allmählich nachließ und das Wesen seine Besuche an Deck einstellte, war der Verstand des Dozenten ein weißes, leeres, knisterndes Etwas, und es kostete ihn alle Überwindung, ihn nicht wegzuwerfen wie eine zerrissene Plastiktüte.
    Nahezu eine Woche dauerte es, bis die Libera Nos das Unwetter vollkommen

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