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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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unglaublichen Erlebnisse auf etwas hinaus, was auch Kartographen wie Mercator im 16. Jahrhundert noch für möglich gehalten hatten: dass die beiden Pole der Erde durch einen Tunnel im Erdinneren miteinander verbunden waren. Poe fügte dieser Vorstellung noch den Gedanken hinzu, dass dort die Gesetze der Zeit aufgehoben wurden. So wie die Gewässer angeblich an den Polen zusammenliefen und sich in einen Mahlstrom ergossen, so schien es in „Manuscript found in a bottle“ auch der Zeit zu ergehen, wenn man den offenen Schluss so interpretieren wollte. Heute würde man möglicherweise von einer Singularität sprechen, einem schwarzen Loch. SF-Autoren der Gegenwart siedelten solche Phänomene in fernen Galaxien an, nicht mehr auf unserem Planeten.
    Und was bedeutete das nun für ihn?
    War es irgendwie, unter irgendwelchen abenteuerlichen Prämissen, vorstellbar, dass er, Sir Darren, ein Teil dieser Geschichte geworden war – oder die Geschichte ein Teil von ihm?
    Es war ihm leicht gefallen, seine Existenz als Geist zu akzeptieren, weil er bereits vorher seine Erfahrungen mit Spukerscheinen gemacht hatte. Aber er hatte in ernsthafter Fachliteratur noch nie von jemandem gelesen, der Bestandteil einer Geschichte geworden war. Die Fiktion spiegelte sich in der Realität, wie sich die Realität in der Fiktion spiegelte, aber … das bedeutete noch lange nicht, dass beide miteinander verschmelzen konnten, wie die Grenzen von Diesseits und Jenseits zu verschwimmen vermochten. Auf keinen Fall war das möglich. Realität blieb Realität – und Fantasie Fantasie.
    „Wenn Sie wollen, werde ich so tun, als würde ich mich auskennen, und Sie ein wenig herumführen.“ Das waren die Worte von Harold Staven gewesen, ehe er im Körper des Briten verschwand. Irgendwie waren das Worte, die der Hauptfigur einer Erzählung gut zu Gesicht standen. War es nicht das, was ein Ich-Erzähler in einer Geschichte wie der von Poe tat? Die Leser ein wenig herumführen, in der Szenerie, in der Handlung, manchmal vielleicht sogar ein klein wenig an der Nase herumführen ? Und dabei so zu tun, als würde er sich auskennen?
    Führte er Sir Darren in Poes Geschichte herum, indem er sie ihn erleben ließ? Hatte der Dozent die Ehre erfahren, eine Erzählung von innen besichtigen zu dürfen, anstatt, wie sonst, von außen?
    Er stieß ein humorloses Lachen aus und wandte sich zur Tür, um die Kabine zu verlassen. Bald schon würde er sehen, ob die Realität sich so fortsetzte, wie die Geschichte weitergegangen war! Natürlich würde es bei den zufälligen Übereinstimmungen bleiben, davon war er überzeugt.
    Doch ehe er hinausging, stockte er. Er hatte die Tasche mit den Gegenständen, die man ihm im Club gegeben hatte, zwischen das Tischchen und die Wand gestellt. Jetzt ging er noch einmal zurück und tastete nach der Flasche, dem Schreibblock und dem Stift, nahm sie heraus und legte sie auf die stumpfe Tischplatte. Betrachtete sie grübelnd.
    Fast hätte man annehmen können, man habe ihm diese Dinge wohlweißlich mitgegeben, damit er seine Erlebnisse aufschreiben und in einer Flasche verschließen konnte – ganz wie es der Protagonist der Poe-Story getan hatte!
    Er schüttelte den Kopf. Nein, er suchte da schon wieder nach Zusammenhängen, die keine waren! Die Flasche war mit hochprozentigem Alkohol gefüllt. Für eine Flaschenpost hätte sie leer sein müssen. Sollte er in dem Alkohol vielleicht etwas konservieren? Einige unappetitliche Gedanken tauchten am Horizont seines Verstandes auf – Elemente, die ohne Frage besser in eine Story von Clive Barker als in ein Werk von Poe gepasst hätten …
    Obwohl die Verwirrung ihn noch nicht ganz losgelassen hatte, fühlte er sich besser, als er den steilen Niedergang nach oben kletterte. So gut man sich eben fühlen konnte, wenn man im Begriff war, eine Wette auf Leben und Tod zu verlieren. Wenigstens verlor er nicht seinen Glauben an die Realität. Die Parallelen zu Poes Geschichte waren amüsant, nicht mehr. Nüchtern betrachtet, sagten sie nicht viel aus. Bestimmt hatten die meisten Schiffe, die diese Strecke fuhren, ähnliche Waren an Bord. Der gute Poe hatte einfach sauber recherchiert, als er seine prämierte Geschichte schrieb. Männer wie Harold Staven, reiche Amerikaner, die Langeweile und Fernweh zu Schiffsreisen drängte, ließen sich fraglos in Hülle und Fülle finden. In der Story wurden keine Namen genannt, Hauptperson und Schiff blieben so anonym wie der Küstenstrich, vor dem sie

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