Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
etwas Zeit haben.“ Der Amerikaner strahlte ihn mit der für sein Volk typischen Direktheit an.
    „Ich habe … eine Woche.“ Eine Woche, ehe seine Frist endete. Mehr als genügend Zeit, um sich, unsichtbar, wie er war, in ein Flugzeug zu schmuggeln und die Heimreise anzutreten. Vor Ablauf der Frist wieder in Amsterdam zu sein, den British Reformers Club aufzusuchen und um Gnade zu winseln. Oder nach London zu fliegen und wenigstens noch einmal seine Heimat zu sehen.
    Und Falkengrund! Falkengrund war auch eine Möglichkeit! Vielleicht konnte dort jemand etwas für ihn tun. Margarete Maus war eine fähige Hexe – gut, er hatte sich stets als ihr schärfster Kritiker betätigt und eine Art Konkurrenzkampf um die Ehre der angesehensten Koryphäe mit ihr ausgefochten, doch das bedeutete nicht, dass er ihr Können nicht anerkannte. Innerlich hatte er es immer gewürdigt. Zumindest versuchte er sich das nun einzureden.
    Aber wollte er das wirklich? Sich diese Blöße geben, um Hilfe zu betteln, obwohl er bereits ahnte, dass ihm wahrscheinlich niemand mehr helfen konnte? Der Fliegende Holländer hatte seinen Pakt, und er, Sir Darren, hatte seine Wette. Verträge, aus denen man nicht mehr herauskam. Er wusste nicht einmal, ob es ihm überhaupt gelingen würde, Kontakt zu den Bewohnern der Schule aufzunehmen. Außer ihm war niemand auf Spiritismus spezialisiert.
    Die Schiffreise dagegen hatte etwas für sich. Hier kannte ihn niemand. Hier musste er keine Erklärungen abgeben, vor niemandem seine Vergangenheit ausbreiten. Das lag ihm. Er wollte seinem Schicksal als Mann entgegensehen, einsam, ja, aber aufrecht. Als wehklagendes Schlossgespenst zu enden – das war nicht seine Wunschvorstellung.
    „Gewiss werden keine Passagiere mehr aufgenommen, so kurz vor dem Ablegen“, meinte er zurückhaltend.
    „Machen Sie sich deswegen keine Sorgen!“ Staven klopfte ihm auf die Schulter, eine Geste, die er nie gemocht hatte, aber jetzt tat sie ihm irgendwie gut. Sie hatte etwas Aufmunterndes, Entschlossenes an sich.
    Seefahrerblut. Den Mitgliedern des Clubs gegenüber hatte er die Behauptung aufgestellt, dass in den Adern jedes Briten Seefahrerblut floss. Als er es ausgesprochen hatte, kam es ihm etwas kühn und übertrieben vor, und doch – seit wenigen Minuten befand er sich an Land, und schon machte er wieder Anstalten, ein Schiff zu betreten …
    Ein Geisterschiff? War dieses Schiff, das vor ihm lag, ein Spuk wie die Libera Nos, oder handelte es sich nur bei Harold Staven um ein Phantom? Die Antwort war leicht zu beantworten, wenn man logisch nachdachte. Die einheimischen Arbeiter, die sich inzwischen auf Kisten gesetzt hatten und lachend miteinander palaverten und rauchten, sahen unablässig zu ihnen herüber. Also gehörten sie zu ihnen. Gespenster. Unglaublich – sie sahen so lebendig aus! Ihre Körper glänzten von ihrem Schweiß, und der Geruch ihres merkwürdig süßlichen Tabaks drang an seine Nase.
    „Gehen wir an Bord?“, forderte Staven ihn auf, und beide erklommen sie das Schiff über eine stabile Holzleiter. „Ich hatte schon kurz Gelegenheit, mich umzusehen. Wenn Sie wollen, werde ich so tun, als würde ich mich auskennen, und Sie ein wenig herumführen.“
    Noch ehe der Brite etwas erwidern konnte, geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte.
    Der Mann trat einen Schritt auf ihn zu. Sir Darren versuchte instinktiv, ihm auszuweichen, doch dazu war es zu spät. Der Amerikaner lief unmittelbar in ihn hinein … und verschwand in ihm … wurde von seinem Körper aufgesogen, bis nichts mehr von ihm übrig war!
    Der Dozent keuchte und taumelte zurück. Er hatte nichts gespürt.
    Mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Was bedeutete das?
    Er bewegte sich, schüttelte sich, drehte sich einige Male um sich selbst. Warum er das tat, wusste er selbst nicht so genau. Wahrscheinlich rechnete er damit, den Mann aus sich hinausschütteln zu können, wie er ihn aufgesogen hatte. Aber da gab es nichts abzuschütteln. Er wartete darauf, einen Einfluss in seinem Geist zu spüren, eine Stimme in seinem Kopf vielleicht, irgendetwas. Da war nichts. Der Amerikaner war nicht in ihn eingedrungen. Er hatte sich einfach aufgelöst, in ihn hinein aufgelöst.

6
    Während Sir Darren aufgeregt und kopflos über das Schiff lief, beendeten die Einheimischen ihre Zigarettenpause und bereiteten in aller Ruhe das Ablegen vor. Sir Darren wurde von dem Kapitän gestoppt und zur Rede gestellt, einem kleinen, weißhaarigen Mischling in einer

Weitere Kostenlose Bücher