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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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speckigen, nach Schweiß riechenden Uniform, der Englisch mit starkem Akzent sprach.
    „Ich habe meinen Platz mit Mr. Harold Staven getauscht“, erklärte der Brite mit einer Schlagfertigkeit, die ihn selbst überraschte. Der Kapitän schien misstrauisch, zeigte sich jedoch einverstanden, da Staven tatsächlich nirgendwo aufzufinden war. Sir Darren fiel ein Stein vom Herzen. Er hätte keine Möglichkeit gehabt, die Fahrt zu bezahlen – ob der Kapitän auf den gleichen Trick hereingefallen wäre wie Bernard Fokke, war fraglich.
    Diesmal verfolgte er das Ablegen nicht vom Deck aus, sondern verkroch sich sofort nach unten in die Kabine, die der Kapitän ihm zugeteilt hatte. Sie war erstaunlich sauber, wenngleich ohne jeden Komfort. Er spürte das Verlangen, sich vor einen Spiegel zu stellen, um zu sehen, ob er sich irgendwie verändert hatte, ob da ein Harold Staven in seinen Zügen war, doch es gab keinen Spiegel, und was er ohne einen solchen von sich sehen konnte, war beim Alten geblieben.
    Es war nicht nur das merkwürdige Verschwinden des Amerikaners, das ihn beschäftigte. Da war auch die Frage, an was ihn das alles erinnerte. Als Staven die Ladung des Schiffes aufzählte, hatte er zum ersten Mal eine Art Déjà-vu-Erfahrung gehabt. Das zweite Mal war, als der Amerikaner von sich erzählte, von seiner Lektüre ethischer Werke, die er sich einbildete, widerlegt zu haben. Das dritte Mal stellte sich das Gefühl ein, als er die Reiseroute darlegte. Eine Reise von Jakarta, nein, Batavia, wie es früher geheißen hatte, zu den kleinen Sunda-Inseln …
    Wer hatte eine solche Reise unternommen?
    Wenn dies ein Geisterschiff war, dann hatte Sir Darren vermutlich irgendwann einmal davon gelesen. Er ging in Gedanken die wichtigsten Werke durch, die sich mit solchen Phänomenen beschäftigten – ohne Erfolg. Vielleicht waren ihm diese Informationen in einem ganz anderen Zusammenhang begegnet, zum Beispiel …
    In der Literatur … in der Belletristik …
    In einer Schauergeschichte etwa …
    Edgar Allan Poe – ganz plötzlich hatte er es: „Manuscript found in a bottle“ – „Manuskript, gefunden in einer Flasche“, eine frühe Kurzgeschichte vom Altmeister des Horrors.
    Die überraschende Entdeckung trieb ihm so sehr die Hitze in den Kopf, dass er für einen Moment beinahe daran zweifelte, ein Gespenst zu sein. Aufgeregt ging er in der engen Kabine auf und ab. Die Dielen quietschten im Rhythmus seiner kleinen Schritte.
    Er hatte die Erzählung mehrmals gelesen, wie alle Werke aus der Feder des amerikanischen Schriftstellers. Fieberhaft rief er sich ins Gedächtnis, woran er sich noch erinnern konnte:
    Ein wohlhabender Mann bestieg in der Erzählung aus innerer Unruhe heraus einen Frachter in Batavia, beladen mit all den Dingen, die Harold Staven aufgezählt hatte. Sir Darren glaubte sich außerdem noch an Kokosnüsse und Kokosfasern zu erinnern. Die Kisten mit Opium, die Baumwolle, das Öl und der Zucker waren jedenfalls vorgekommen, da war er sicher.
    Die Geschichte beschrieb eine Reihe merkwürdiger Vorkommnisse. Sir Darren versuchte sie im Geist zu ordnen:
    Nachdem der Passagier einige ungewöhnliche Phänomene am Himmel beobachtet hat, legt sich eine tiefe Windstille über sie, und der Kapitän geht in der Nähe der Küste vor Anker. Überraschend erhebt sich ein Sturm, der fast die gesamte Besatzung über Bord schwemmt und das Schiff stark beschädigt. Zusammen mit einem alten schwedischen Matrosen treibt der Passagier tagelang – fünf Tage, wenn er es richtig im Kopf hatte – hilflos über das Meer in Richtung Südpol. Im Zwielicht der Polarnacht erkennt er auf dem Kamm einer gigantischen Welle ein riesiges Schiff, und als dieses auf das seine hinabstürzt, wird er in die Takelage des fremden Seglers geschleudert. Dieses Schiff scheint uralt zu sein, auch seine Besatzung, die den Passagier nicht wahrnimmt, trägt die Zeichen unvorstellbaren Alters. Der Mann notiert seine Erlebnisse auf Papier und verspricht, die Aufschriebe in einer Flasche dem Meer zu übergeben. Dies tut er in dem Moment, in dem das Schiff in einem gewaltigen Strudel im Eis versinkt.
    Sir Darren erinnerte sich, gelesen zu haben, dass diese Erzählung Poe einen Preis eingebracht hatte, den ersten seiner Karriere. Allerdings gab es heute auch Kritiker, die sie zu seinen schwächeren Werken zählten. Sie war eher phantastisch als beklemmend. Man konnte sie der frühen Science Fiction zurechnen, oder der Fantasy, denn letztlich liefen die

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