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80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste

Titel: 80 Tage - Neun Faden - Mary Celeste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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ihren Ursprung in so vollkommen neuen Quellen haben. Ein neuer Sinn – ein neues Wesen wurde meiner Seele hinzugefügt.
    *
    Es ist lange her, seit ich zum ersten Mal über das Deck dieses furchtbaren Schiffes ging, und ich denke, die Strahlen meines Schicksals sammeln sich nun zu einem Fokus. Diese unbegreiflichen Männer! Versunken in Überlegungen, die ich nicht zu erraten vermag, passieren sie mich, ohne auf mich aufmerksam zu werden. Mich zu verbergen ist lächerlich, denn sie wollen mich nicht sehen. Gerade eben ging ich vor den Augen des Maats vorüber – es ist nicht lange her, als ich mich in die Privatkabine des Kapitäns wagte und mir dort die Materialien nahm, mit denen ich schreibe und geschrieben habe. Ich werde diese Aufzeichnungen von Zeit zu Zeit fortführen. Es stimmt, dass ich wohl keine Möglichkeit finden werde, sie an die Welt weiterzugeben, doch ich werde zumindest den Versuch unternehmen. Im letzten Moment werde ich das Manuskript in einer Flasche verschließen und es ins Meer werfen.
    *
    Etwas ist vorgefallen, was mir neuen Raum für Überlegungen gegeben hat. Sind solche Dinge die Arbeit des unkontrollierbaren Zufalls? Ich hatte mich an Deck gewagt und mich, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, auf einen Stapel mit Stoffen aus Webleine und alten Segeln am Boden der Yawl geworfen. Während ich über mein eigenwilliges Schicksal nachgrübelte, beschmierte ich unbewusst die Ecken eines sauber zusammengelegten Leesegels, das in meiner Nähe auf einem Fass lag, mit einem Teepinsel. Das Segel ist nun gesetzt, und die gedankenlosen Striche des Pinsels formen sich zu dem Wort ENTDECKUNG.
    Ich habe in letzter Zeit viele Beobachtungen hinsichtlich der Struktur des Schiffes gemacht. Obwohl es gut bewaffnet ist, scheint es mir kein Kriegsschiff zu sein. Seine Takelung, sein Bau und seine allgemeine Ausrüstung widersprechen einem solchen Zweck. Was das Schiff nicht ist, ist leicht zu erkennen – was es ist, ist, wie ich fürchte, unmöglich zu sagen. Ich weiß nicht, wie es kommt, aber wenn ich die seltsame Form, die einzigartige Anordnung der Spieren, seine gewaltigen Maße und sein übergroßes Kleid aus Segeltuch betrachte, seinen höchst einfachen Bug und das antiquierte Heck, dann blitzt bisweilen der Eindruck von etwas Vertrautem in meinem Geist auf, und vermischt mit solchen vagen Schatten der Erinnerung ist stets ein unerklärliches Sich-Erinnern an alte fremdländische Chroniken und an längst vergangene Zeiten.
    *
    Ich habe mir die Balken des Schiffes angesehen. Es ist aus einem Material gebaut, das mir fremd ist. Etwas an dem Holz scheint es mir ungeeignet für den Zweck zu machen, zu dem es verwendet wird. Ich spreche von seiner außergewöhnlichen Porösität, die nichts mit seiner Wurmzerfressenheit zu tun hat, die eine Folge des Navigierens in diesen Gefilden darstellt, und auch nicht mit der fortgeschrittenen Fäulnis aufgrund seines Alters. Es mag vielleicht allzu überspannt klingen, aber dieses Holz würde sämtliche Eigenschaften von spanischer Eiche aufweisen, falls diese spanische Eiche auf unnatürliche Weise aufgebläht würde.
    Wenn ich den oberen Satz lese, kommt mir das orakelhafte Motto eines alten, wettergegerbten holländischen Navigators in den Sinn. „Es ist so sicher“, pflegte er zu sagen, wenn Zweifel an seiner Aufrichtigkeit aufkamen, „so sicher wie es eine See gibt, wo das Schiff als Ganzes wächst wie der lebendige Leib eines Seemanns.“
    *
    Etwa eine Stunde später wagte ich es, mich einer ganzen Gruppe von Besatzungsmitgliedern zu stellen. Sie achteten in keinster Weise auf mich, und obwohl ich in ihrer Mitte stand, schien ihnen meine Anwesenheit nicht aufzufallen. Wie der erste, den ich im Frachtraum gesehen hatte, trugen sie alle die Merkmale großen Alters. Ihre Knie schlotterten vor Gebrechlichkeit, ihre Schultern waren gekrümmt vor Altersschwäche; ihre zerknitterte Haut knisterte im Wind; ihre leisen, zitternden Stimmen brachen; ihre Augen schimmerten vor Hinfälligkeit, und ihre grauen Haare strömten entsetzlich im Sturm. Um sie herum auf jedem Teil des Decks lagen mathematische Instrumente von höchst kuriosen und veralteten Konstruktionen verstreut.
    *
    Ich erwähnte vor kurzem das Setzen des Leesegels. Seit dieser Zeit ist das Schiff, vollkommen vom Wind abgefallen, hat seinen furchtbaren Kurs nach Süden fortgesetzt, mit jedem Fetzen Segeltuch im Einsatz, bis zu den unteren Leesegelspieren, und jeden Moment aufs Neue taucht es seine Bramrahen in die

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