9 - Die Wiederkehr: Thriller
und Zahlen entschlüpften dem alten Palmer manchmal noch auf Englisch. »Eines Tages wird meine Frau herkommen und den Shop zumachen müssen, weil ich hinter dem Tresen zusammengeklappt bin.«
Er widmete sich wieder einer der Schubladen.
»So wie es dem Barmann da vorne an der Ecke ergangen ist, dem Bruder des Inhabers. Haben Sie davon gehört? Er soll gestorben sein, während er gerade die Abrechnung gemacht hat. Sie haben ihn bei dem Spielautomaten gefunden. Anscheinend ist er noch ein paar Meter auf den Ellenbogen vorwärtsgekrochen.«
Amador war sich nicht sicher, ob der alte Mann mit ihm oder mit sich selbst sprach.
Leo hatte sich mit dem Rücken zur Kasse an den Ladentisch gelehnt, sodass ihn Señor Palmer nicht sehen konnte. Er zupfte seinen Vater am Ärmel und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Dann drehte er sich herum und lugte zwischen acht Fingern hindurch über den Ladentisch. Amador räusperte sich, um den Alten an seine Anwesenheit zu erinnern. Wieder zuckte er zusammen.
Palmers Blick, der zuvor fest auf Amador gerichtet war, fiel jetzt auf den Jungen. Leo hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und betrachtete den Ladenbesitzer. Die kindliche Neugier schlug in Erstaunen um, als er den unergründlichen Gesichtsausdruck des Mannes sah. Ja, der Mann starrte ihn an, als hätten sie sich irgendwo schon einmal gesehen.
Das Herz des Alten machte einen Sprung, als der Funke der Erinnerung, der eben nach kurzem Aufflackern wieder erloschen war, in diesem Augenblick hell zu leuchten begann.
Und als der Junge nun die Stirn runzelte, wobei er ein Auge etwas weiter öffnete als das andere, schien ihm die Geste unverwechselbar zu sein.
Das war der Junge. Er stand direkt vor ihm.
Ein Schauer überlief ihn. Ihm war, als zöge jemand sein weitverzweigtes Nervenkostüm zu einem einzigen Knoten zwischen den Schultern zusammen. Einen Moment lang verschleierte sich sein Blick. Er fürchtete, ohnmächtig zu werden, doch dann kam der Alte wieder zu sich. Wieder traf ihn der Anblick des Jungen wie ein Blitz. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er konnte seinen Herzschlag hören. Sein Puls beschleunigte sich in einer Weise, die der Doktor strengstens verboten hatte.
»Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Amador. »Vielleicht sollten Sie jetzt gleich diese Tabletten einnehmen.«
Neben ihm stand Leo, der nicht minder überrascht, wenn auch außerstande war, die Bedeutung des Vorfalls zu begreifen, wie angewurzelt auf den Zehenspitzen und fühlte sich auf sonderbare Weise erkannt. Amadors Stimme holte den Alten wieder in die Gegenwart zurück.
»Die Tabletten, ja«, stammelte Palmer. »Die Tabletten.«
Er öffnete wieder eine Schublade, diesmal deutlich entschlossener als zuvor, und begann darin zu kramen, wobei wieder einige Zettel zu Boden fielen. Womöglich war es sein Unterbewusstsein, das ihm nun, da es immer dringender wurde, verriet, wo er sein Medikament zum letzten Mal gesehen hatte. Schließlich holte er aus der Schublade eine Folie mit fünf Kapseln hervor. Er nahm zwei heraus und steckte sie sich in den Mund. Mühsam schluckte er sie hinunter. Durch den Mangel an Speichelflüssigkeit konnte er spüren, wie die Kapseln an der Speiseröhrenwand entlang langsam nach unten glitten. Wenn auch kein medizinischer Grund für eine unmittelbare Besserung bestand, so war die Placebowirkung enorm. Der Zustand der Beklemmung verflog, und Palmer fühlte sich nun in der Lage, die Anspannung zu überspielen, die der Anblick des Jungen in ihm hervorgerufen hatte. Dann erst wandte er sich wieder zu den beiden um.
» Wow . So ist es besser.« Es gelang ihm, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Das macht …« – die Kopfrechnung führte er auf Englisch durch – »drei Euro fünfzig.«
»Berechnen Sie bitte auch eins von den Bonbons da«, sagte Amador und deutete mit dem Kopf in Richtung des Süßwarenregals am Eingang. »Mein Sohn … er hat sich einfach eins genommen.«
Palmer reagierte kaum auf die Worte des Vaters. Sein Blick ruhte weiterhin auf Leo, während er eine grüne Plastiktüte unter der Ladenkasse hervorzog und die Milchpackungen nacheinander hineinstellte. Die Milch war definitiv zu schwer für die dünnen Tüten, die die Studenten in wilden Partynächten an Stöcken befestigten und anzündeten, um zu beobachten, wie das flüssige Plastik auf die eine oder andere herumstreunende Katze tropfte.
Amador suchte in seinem Portemonnaie nach einem Fünfeuroschein und reichte
Weitere Kostenlose Bücher