9 SCIENCE FICTION-STORIES
sagte er, »aber du mußt mitarbeiten. Leg dich wieder hin …«
»Es hat schon geholfen«, sagte ich.
»Was?«
»Alles. Von A bis Z.« Ich schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«
Er sah mich durchdringend an. »Was meinst du damit.«
»Es kam, genauso wie Sie sagten. In der Bibliothek. Als ich elf war. Als sie sagte: ›Baby ist drei.‹ Es riß etwas auf, was drei Jahre lang in ihr gearbeitet hatte. Alles kam heraus. Es traf mich mit ganzer Gewalt. Ohne Warnung, ohne daß ich mich verteidigen konnte. Und ich war nur ein elfjähriges Kind. Es war ein solcher Schmerz dabei, wie man sich ihn gar nicht vorstellen kann.«
»Weiter«, sagte Stern.
»Das ist eigentlich alles. Ich meine, es ist nicht die ganze Geschichte. Aber die Hauptsache dabei ist doch, wie ich sie erlebte. Alles auf einmal. All die Dinge, die sie innerhalb von vier Monaten erlebt hatte. Sie kannte Lone.«
»Willst du damit sagen, daß du im Bruchteil einer Sekunde all das miterlebt hast?«
»Ja.« Ich versuchte es ihm zu erklären. »Verstehen Sie, für diese kurze Zeit war ich sie mit allem, was sie je getan, gedacht, gehört und gefühlt hatte. Alles, alles in der richtigen Reihenfolge. Oder eine Einzelheit. Ich konnte auswählen, was ich wollte. Wenn ich Ihnen erzähle, was ich zum Abendessen hatte, muß ich Ihnen dazu alle anderen Ereignisse von meiner Geburt an schildern? Nein. Ich sage Ihnen, ich war sie, und seitdem kann ich mich an jede Einzelheit erinnern, die sie bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte. Ich war sie – wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde.«
»Gestalt«, murmelte er.
»Aha«, meinte ich und dachte darüber nach. Ich dachte über viele andere Dinge nach. Dann schob ich alles einen Augenblick beiseite und fragte: »Warum wußte ich das alles nicht vorher?«
»In dir war eine starke Sperre, die dich daran hinderte, an diese Dinge zurückzudenken.«
Ich stand erregt auf. »Aber ich sehe nicht ein, weshalb. Ich kann es einfach nicht einsehen.«
»Ein natürlicher Abscheu«, meinte er. »Was sagst du dazu? Du hattest einen Ekel davor, auch nur eine Sekunde lang ein weibliches Ego anzunehmen.«
»Ganz am Anfang sagten Sie selbst, daß ich diese Art von Problem nicht hätte.«
»Nun, dann vielleicht folgendes: Du sagtest, daß du bei dieser Episode Schmerz gefühlt hättest. Vielleicht hattest du Angst, diesen Schmerz noch einmal durchmachen zu müssen.«
»Lassen Sie mich nachdenken. Ja – zum Teil. Und ich hatte überhaupt Angst, in das Innere eines anderen Menschen einzudringen. Sie öffnete sich mir, weil ich sie an Lone erinnerte. Ich drang in sie ein. Ich war noch nicht bereit. Ich hatte es zuvor noch nie getan – nur ganz minimal und dann gegen den Willen der Versuchsperson. Ich drang ganz in sie ein, und das war zuviel. Es schreckte mich so ab, daß ich es jahrelang nicht mehr versuchte. Ich schloß es weg. Aber als ich älter wurde, wurde auch die Kraft in mir stärker und stärker. Ich hatte immer noch Angst, sie zu benutzen. Und je mehr ich wuchs, desto mehr fühlte ich tief in mir, daß ich Miß Kew töten mußte, bevor sie das tötete – was ich bin. Mein Gott!« schrie ich plötzlich auf. »Wissen Sie, was ich bin?«
»Nein«, antwortete er. »Willst du es mir sagen?«
»O ja«, sagte ich. »So gern.«
Er hatte diesen berufsmäßig interessierten Gesichtsausdruck aufgesetzt, diese Maske, der man nicht entnehmen konnte, ob er mir glaubte oder nicht. Ich wollte es ihm sagen, aber plötzlich fehlten mir die Worte. Ich fühlte die Dinge und hatte doch keinen Namen für sie.
Lone holte den Inhalt aus den Worten und warf die Worte weg.
Und noch früher: Du liest Bücher. Du mußt ein paar Bücher für mich lesen.
Der Blick dieser Augen. Dieses … öffnen.
Ich ging zu Stern hinüber. Er sah zu mir auf. Ich beugte mich dicht über ihn. Zuerst war er
Weitere Kostenlose Bücher